Soziale Medien in Organisationen: adaptive Anpassung von Regelwerken anhand des Vergleichs der angestrebten und tatsächlichen Nutzung

Ansprechpartner: Björn Kruse

Während der letzten Jahrzehnte hat die Informationstechnik (IT) einen Wandel von ihrem ursprünglichen Zweck der Informationsverarbeitung und Entscheidungsunterstützung hin zu einem ubiquitären Instrument zur Unterstützung von Kommunikation und (virtueller) Zusammenarbeit vollzogen (vgl. Aakhus et al. 2014, S. 1188). Soziale Medien (SM) stehen für diese Form ubiquitärerer IT-Artefakte, die das Verhältnis von materiellen und sozialen Entitäten im privaten und zunehmend beruflichen Umfeld verschwimmen lassen (vgl. Kaplan und Haenlein 2010, S. 61). Im Zuge der nutzergetriebenen Verbreitung, die als gesellschaftliches Phänomen weitreichende Ausmaße angenommen hat, hat sich auch die organisationale Adoption unterschiedlicher intern und extern genutzter SM-Plattformen in den letzten Jahren manifestiert. Die Implikationen dieser Adoption sind allerdings weder im theoretischen noch im praktischen Umfeld vollständig durchdrungen. Dies ist insbesondere auf zwei Beobachtungen zurückzuführen: erstens weisen die SM besondere Eigenschaften auf, die im Rahmen der Adoption berücksichtigt werden müssen, und zweitens erfolgt die organisationale Adoption der SM anders als die von typischerweise in Organisationen eingeführten IT-Artefakten.

Die erstmalige Nutzung eines neu eigenführten IT-Artefakts beginnt üblicherweise mit einer reflektierten Manipulation durch die Nutzer. Idealtypisch sollte dies auf Grundlage von expliziten Instruktionen und Anweisungen erfolgen. SM sind allerdings durch ihre Emergenz charakterisiert, da sich Struktur, Inhalt, Kontext und Anwendungsbereich ausschließlich aus den Bedürfnissen und Aktivitäten der Nutzer ableiten lassen. Deren potenzieller (organisationaler) Einsatzzweck ist so a priori nicht ermittelbar, weil weder definitive Rückschlüsse auf ihre Nutzung möglich sind, noch diese auf Entscheider-Ebene vorgegeben werden können (vgl. Richter und Riemer 2013, S. 195–196; Tilson, Lyytinen und Sørensen 2010, S. 748). Dies erschwert die Steuerung des Einsatzes der SM in den Organisationen; eine Aufgabe, die typischerweise der IT-Governance zugeschrieben wird. Als eine der wenigen wirksamen Methoden zur bewussten Steuerung der SM hat sich in der Praxis die Etablierung von Regelwerken, sogenannter Guidelines oder Policies erwiesen (z. B. Krüger, Brockmann und Stieglitz 2013, S. 2).

Die Ausgestaltung und Implementierung solcher Steuerungsansätze wird üblicherweise vor der organisationalen Adoption des IT-Artefakts vorgenommen. Aus theoretischer Sicht folgt ein Großteil der in der Wirtschaftsinformatik etablierten adoptionstheoretischen Ansätze dieser Prämisse. Nach der Identifizierung eines konkreten Bedürfnisses und der anschließenden Anforderungserhebung wird ein klassischer Matching-Prozess zwischen dem Einsatzzweck und den Eigenschaften der IT-Artefakte angestoßen. Diese Abfolge trifft allerdings nur eingeschränkt auf die SM zu, weil diese häufig „Bottom-up“ und ohne initiales Bewusstsein der Entscheider in die Organisationen getragen werden. Sie verändern somit die traditionelle, gradlinig abbildbare Sequenz der Adoption und entziehen sich, zumindest in einer frühen Phase der Etablierung, einer strategisch bewussten Auswahl durch organisationale Entscheidungsträger. Diese müssen stattdessen auf die unplanmäßige Einführung reagieren, womit es zu einem schleichenden Kontrollverlust über real genutzte IT-Artefakte kommt (vgl. Vaast und Kaganer 2013, S. 81; Treem und Leonardi 2012, S. 158). Die Mitarbeiter werden dagegen zu führenden Treibern der Einführung der SM in die Organisationen (vgl. Treem und Leonardi 2012, S. 158).

Bestehende wissenschaftliche Arbeiten zur Etablierung von IT-Governance-Mechanismen zur organisationalen Steuerung der SM berücksichtigen bislang lediglich die durch die Entscheider angestrebte Form der Nutzung. Die Nutzungsoffenheit der SM macht allerdings eine Gegenüberstellung der angestrebten und tatsächlichen Nutzung, die erst im Zeitablauf abgeleitet werden kann, notwendig, um eine zielführende Steuerungswirkung der Regelwerke erzielen zu können. Für die Arbeit wurde daher folgende Zielsetzung zugrunde gelegt:

Entwicklung eines Ansatzes zur adaptiven Veränderung von Regelwerken für die Steuerung des organisationalen Einsatzes der SM durch die Zuweisung von Archetypen der tatsächlichen Nutzung.

Dazu bedarf es eines Ansatzes, der die tatsächliche Nutzung zielführend in die Ausgestaltung der Regelwerke einfließen lässt. Für die Arbeit ergaben sich drei zentrale Forschungsfragen, um eine Abstimmung zwischen der angestrebten Form der Nutzung durch die Entscheidungsträger und der tatsächlichen Nutzung der SM im Zeitverlauf zu realisieren. Zur Abbildung der angestrebten Nutzung wurden in der Arbeit zunächst 24 organisationale Regelwerke zur Nutzung der SM unterschiedlicher Organisationen, im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse, untersucht.

1. Angestrebte Nutzung: Wie sind die Regelwerke für die Steuerung der organisationalen Nutzung von den SM aufgebaut?

Für die Erhebung der tatsächlichen Nutzung wurden in einem zweiten Schritt die Aktivitäten der Organisationen auf dem weltweit größten sozialen Netzwerk Facebook (FB), in Form der abgesetzten Postings, analysiert. Dazu wurden die vollständigen Facebook-Historien der 24 betrachteten Organisationen zugrunde gelegt, um die Potenziale zur adaptiven Anpassung der Regelwerke – gemessen an den erhobenen Einsatzzwecken – über sämtliche Jahre der Nutzung abzuleiten.

2. Tatsächliche Nutzung: Wie gestaltet sich die organisationale Nutzung der SM am Beispiel des sozialen Netzwerks Facebook?

Für die adaptive Anpassung der Regelwerke wurde abschließend ein Vorgehensmodell vorgestellt, mit dem die Anpassung der Regelwerke durch Elemente der tatsächlichen Nutzung realisiert werden kann.

3. Abstimmung der Nutzung: Wie müssen SM-Richtlinien ausgestaltet sein, um die durch die Regelwerke angestrebte und die tatsächlich beobachtete Nutzung wirkungsvoll zusammenzuführen?

Für einen professionalisierten und ausgereiften Umgang mit den SM müssen die Governance-Anforderungen als Steuerungsrahmen der Regelwerke adaptiven Änderungen unterliegen. Die gewonnenen Erkenntnisse, die sich aus der Anwendung eines adaptiven Regelwerks ergeben, sind zweigeteilt. Zum einen kann auf dieser Grundlage die Nutzung der SM, aus Sicht der Entscheidungsträger, in eine gewünschte Richtung geführt werden. Zum anderen ergibt sich für die organisationalen Nutzer der SM eine praktikable Handlungsanweisung bei der Anwendung des Regelwerks, durch das Aufgreifen der Erfahrungswerte und den resultierenden Lerneffekten der tatsächlichen Nutzung im Zeitverlauf. Auf diese Weise wird aus einem starren Regelwerk, das den Einsatz der SM initial einschränkt, ein proaktives Regelwerk, das Aufschluss über unterschiedliche Nutzungsformen liefert. So kann das Potenzial der SM für die Organisationen aufgegriffen und die Unsicherheiten der Nutzer, im Umgang mit den nutzungsoffenen IT-Artefakt ‚SM‘, abgebaut werden.

Der Wirtschaftsinformatik wird eine zentrale Rolle bei der Analyse, Adoption, Nutzung und Steuerung organisational eingeführter IT-Artefakte zugeschrieben. Fragestellungen zum Verlauf der Adoption und zur erfolgreichen Integration von IT-Artefakten im organisationalen Kontext entsprechen einem zentralen Forschungsinteresse der Disziplin (vgl. Aral, Dellarocas und Godes 2013, S. 3). Aufgrund der Besonderheiten des Untersuchungsgegenstands der SM ergeben sich für die Betrachtung der Adoption einige Besonderheiten. Etablierte adoptions-theoretische Ansätze vertreten eine überwiegend rationalistisch geprägte Auffassung, in der die Adoption als Entscheidungssituation für Entscheidungsträger betrachtet wird, die sich für oder gegen die Einführung des IT-Artefakts entscheiden (vgl. Riemer et al. 2012, S. 2). Diese Position wird durch die Nutzungsoffenheit der SM und die Beobachtung, dass die SM häufig Bottom-up und ohne Wissen der Entscheidungsträger, in die Organisation getragen werden, infrage gestellt. In dieser Arbeit wird ein neuartiger adoptionstheoretischer Ansatz entwickelt, der anstelle der zeitpunktbezogenen Adoption den nachgelagerten Appropriations-Prozess durch die Beobachtung der tatsächlichen Nutzung im Zeitverlauf betrachtet. Die resultierenden Erkenntnisse der Zusammenführung von angestrebter und tatsächlicher Nutzung stellen für die Ausgestaltung der Regelwerke eine sinnvolle Erweiterung dar, um der Steuerungsfunktion und der anleitenden Komponente von Regelwerken Rechnung zu tragen.

Literatur

  • Aakhus, Mark, Pär Agerfalk, Kalle Lyytinen und Dov Te’eni. 2014. „Symbolic Action Research in Information Systems: Introduction to the Special Issue.“ MIS Quarterly 38 (4): 1187–1200.
  • Aral, Sinan, Chrysanthos Dellarocas und David Godes. 2013. „Social Media and Business Transformation: A Framework for Research.“ Information Systems Research 24 (1): 3–13.
  • Kaplan, Andreas M. und Michael Haenlein. 2010. „Users of the world, unite! The challenges and opportunities of Social Media.“ Business Horizons 53 (1): 59–68.
  • Krüger, Nina, Tobias Brockmann und Stefan Stieglitz. 2013. „A Framework for Enterprise Social Media Guidelines.“ Americas Conference on Information Systems (AMCIS).
  • Richter, Alexander und Kai Riemer. 2013. „Malleable End-User Software.“ Business & In-formation Systems Engineering 5 (3): 195–97.
  • Riemer, Kai, Philipp Overfeld, Paul Scifleet und Alexander Richter. 2012. „Eliciting the anat-omy of technology appropriation processes: a case study in enterprise social media.“ In Eu-ropean Conference on Information Systems (ECIS).
  • Tilson, David, Kalle Lyytinen und Carsten Sørensen. 2010. „Digital Infrastructures: The Miss-ing IS Research Agenda.“ Information Systems Research 21 (4): 748–59.
  • Treem, Jeffrey W. und Paul M. Leonardi. 2012. „Social Media Use in Organizations - Explor-ing the Affordances of Visibility, Editability, Persistence, and Association.“ Communica-tion Yearbook, 143–89.
  • Vaast, Emmanuelle und Evgeny Kaganer. 2013. „Social media affordances and governance in the workplace: An examination of organizational policies.“ Journal of Computer-Mediated Communication 19 (1): 78–101.
Lehrstuhl Baumöl | 16.11.2021