Veranstaltungen

Die Europäische Union als Verfassungsordnung

Termin: 13.02.2004 / 10:00 Uhr

Ort: Arcadeon – Haus der Wissenschaft und Weiterbildung Lennestr. 91, 58093 Hagen

Symposion


Veranstalter: Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (IEV)

Tagungsbericht

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Am 13. Februar 2004 veranstaltete das neu gegründete Institut für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen (IEV) sein Eröffnungssymposion zum Thema „Die Europäische Union als Verfassungsordnung.“ Die Veranstaltung gliederte sich in drei Themenblöcke, die sich erstens auf aktuelle politische Implikationen, zweitens auf historische und drittens auf politisch-kulturelle Aspekte des Konventsentwurfs konzentrierten. Der interdisziplinären Organisation und Ausrichtung des Instituts entsprechend setzte sich der Kreis der Referenten und Teilnehmer hauptsächlich aus Juristen, Politikwissenschaftlern und Historikern zusammen; Grußworte sprachen der Chef der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, Minister Wolfram Kuschke (Düsseldorf), Hagens Oberbürgermeister Wilfried Horn, Helmut Hoyer, Rektor der FernUniversität, sowie Thomas Fleiner (Fribourg), Vorsitzender des Kuratoriums des IEV. Eine kurze Einführung in die Organisationsstruktur, personelle Zusammensetzung und das Gründungsprogramm des IEV lieferte der amtierende Direktor des IEV, Peter Brandt (Hagen).


(v. l. n. r.) Minister Michael Vesper, Frithjof Schmidt,
Oberbürgermeister Wilfried Horn, Minister Wolfram
Kuschke, FernUni-Rektor Prof. Dr. Helmut Hoyer,
MdEP Klaus Hänsch und Direktor des IEV Prof. Dr.
Peter Brandt, Foto: FernUniversität

Zum Thema der Sektion A („Die Europäische Verfassung – Der neue Verfassungsentwurf zwischen Intergouvernementalität und Integration“) diskutierten die MdEP Klaus Hänsch, Elmar Brok und Jacques Santer sowie Frithjof Schmidt, NRW-Landesvorsitzender der Grünen/B 90; die Diskussionsleitung übernahm Dimitris Tsatsos, MdEP und Berichterstatter des EP über den Konventsentwurf. Dabei standen drei Gesichtspunkte im Vordergrund: der Charakter der neuen Verfassungsordnung, die Beurteilung des Konzepts der „doppelten Mehrheit“ und seiner Durchsetzungschancen auf europäischer Ebene sowie die weiteren Perspektiven des europäischen Verfassungsprozesses. Grundsätzlich bestand Einigkeit, dass es sich bei der Europäischen Union um eine Verfassungsordnung sui generis handele, die weder mit dem Begriff des Bundesstaats noch des Staatenbundes zufriedenstellend beschreibbar sei. Charakteristisch seien vielmehr die Mischung unterschiedlicher Legitimitäten und der Dualismus von Föderalität und Intergouvernementalität. Obwohl die Union offenbar kein Staat sei, werde sie in zunehmendem Maße nach innerstaatlichen (und nicht nach völkerrechtlichen) Methoden arrangiert.

Die Notwendigkeit einer baldigen Konsensbildung zum europäischen Verfassungsentwurf wurde allgemein betont und auf die Gefahr des langfristigen Scheiterns des Verfassungsprojekts hingewiesen. Die beeindruckende Konsensbildungsleistung des Konvents dürfe weder durch den Beharrungswillen der nationalen Apparate gefährdet noch im entscheidenden Punkt der „doppelten Mehrheit“ durch das Agieren der Regierungskonferenz geschwächt werden. Alles in allem könne der laufende und künftige europäische Verfassungsprozess mit einiger Zuversicht gesehen werden: die Konventsmethode habe sich als innovativ und ausbaufähig erwiesen; das nächste Ziel bestehe in der zunehmenden Bindung der Außen- und Verteidigungspolitik an Europa; der Einbau direktdemokratischer Elemente dürfe nicht zu einer Abschwächung des repräsentativen Prinzips führen.

Das Podium zu Sektion B („Historische Bedingungen einer europäischen Verfassung“) bestritten Wolfgang Reinhard (Freiburg), Hans Vorländer (Dresden) und – als Vertretung für Waldemar Hummer, der kurzfristig absagen musste – Dimitris Tsatsos; die Moderation übernahm Miroslaw Wyrzykowski, Richter am Polnischen Verfassungsgericht Warschau. Vorträge und Diskussion dieses Podiums verwiesen vor allem auf die Schwierigkeiten und Probleme der historischen Einbettung des europäischen Verfassungsentwurfs: Wolfgang Reinhard sprach tendenziell von einem Negativbefund und machte darauf aufmerksam, dass der moderne Staat zuerst aus dynastischer Wurzel entstanden sei. Auch der Sonderfall des „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ könne nicht als vormodernes supranationales Föderalismusmodell gesehen werden: mit ihm verbanden sich weder Momente gesamtstaatlicher Integrität noch moderne Ordnungsansprüche. Deshalb sei auch die Anknüpfung des Kaiserreichs von 1871 an das „Alte Reich“ eine bloße Konstruktion ohne Realitätsgehalt.

Die Divergenzen europäischer Verfassungsentwicklung der Moderne betonte auch Hans Vorländer, der drei Pfade des modernen Konstitutionalismus im Europa des 19. Jahrhunderts unterschied: den historisch-evolutionistischen (britischen), den rationalistisch-voluntaristischen (französischen) und den vom Vorrang der Rechtsförmigkeit vor der Politik ausgehenden rationalistisch-juridischen Weg. Jeder dieser drei Pfade habe zur Ausbildung und Verfestigung spezifischer verfassungskultureller Prägungen geführt – für die Bundesrepublik sei nach 1945 eine markante Orientierung am amerikanischen Verfassungsverständnis der „constitutional democracy“ auszumachen. Die aus den unterschiedlichen historischen Verfassungskulturen potentiell resultierende Gefahr eines „Clash of Constitutional Cultures“ sei im europäischen Verfassungsbildungsprozess der Gegenwart eher nicht evident, vielmehr ergäben sich Anzeichen einer verfassungspolitischen Konvergenzbewegung im Sinne der durch juristische Elemente (insbes. Verfassungsgerichtsbarkeit) eingehegten Demokratie.

Demgegenüber betonte Dimitris Tsatsos den mit der Konventsmethode einhergehenden Aufschwung des politischen gegenüber dem – primär dem Effizienzgesichtspunkt verpflichteten – administrativen Element.

Im Zentrum der Sektion C („Die Verfassungskonzeption des Konventsentwurfs im Rahmen einer gemeineuropäischen Verfassungskultur“) standen die konstitutionellen Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union. Es referierten Dian Schefold (Bremen), Peter Schiffauer (Brüssel) und Ingolf Pernice (Berlin), die Moderation besorgte Thomas Fleiner. Dian Schefold wies aus der Perspektive des Bismarckreichs von 1871 darauf hin, dass die damalige bundesstaatliche Entwicklung trotz substantieller Souveränitätsansprüche der Einzelstaaten und erheblicher demokratischer Defizite vorangekommen sei. Auch wenn die EU nicht als Bundesstaat gelten könne, sei doch eine deutliche Stärkung staatlicher Strukturelemente zu beobachten, wobei die faktische Konstituantefunktion des Konvents einen außerordentlich bedeutsamen Entwicklungsschritt darstelle. Schon heute befinde sich die EU in der „Nähe staatlicher Gewalt“.

Peter Schiffauer verortete die „konstitutionelle Wende“ der EU zum Zeitpunkt der Regierungskonferenz von Amsterdam (1996/97). Hier habe sich die Einsicht durchgesetzt, dass das Instrument der Regierungskonferenz der Ergänzung durch das Parlament bedürfte und eine europäische Verfassungsbildung ohne parlamentarische Beteiligung schlichtweg unmöglich sei. Mit der Durchsetzung der Konventsmethode habe sich der Einbruch des Parlaments in den „Despotismus“ der Regierungskonferenz vollzogen; insbesondere die Grundrechtecharta habe die konstitutionelle Gestaltungskraft des europäischen Parlaments unter Beweis gestellt.

Wie sein Vorredner betont auch Ingolf Pernice die große Bedeutung der Grundrechtecharta als „riesigen Schritt“ auf dem Weg zu europäischer Verfassungsqualität. Es vollziehe sich ein Prozess des Übergangs von völkerrechtlicher Vertragsbildung zu gemeineuropäischem Verfassungsrecht sowie des sukzessiven Eindringens von Verfassungselementen und
-begrifflichkeiten. So habe es schon lange vor dem Konventsentwurf Versuche zur Etablierung eines europäischen Verfassungsbegriffs gegeben. Neben dem politischen Einigungsprozess sei die Vernetzung der nationalen Verfassungsgerichte bzw. deren Austausch mit dem Europäischen Gerichtshof ein bedeutsamer Faktor der Konstitutionalisierung Europas.


Prof. Dr. Dimitris Tsatsos mit dem Präsidenten
des EuGH Prof. Dr. Wassilios Skouris,
Foto: FernUniversität

In der Diskussion widersprach Wassilios Skouris, Präsident des EuGH, der vorher geäußerten Deutung, dass der EuGH nicht zuletzt aus eigenem Aufwertungsinteresse an der Etablierung des europäischen Verfassungsbegriffs aktiv beteiligt sei; gegenüber Ansätzen einer „Begriffsjurisprudenz“ mit dem Ziel der Konstruktion eines europäischen Verfassungsbegriffs äußerte er sich grundsätzlich skeptisch.

Die Tagung wurde mit einem Abendempfang beschlossen.

DTIEV | 08.04.2024