Veranstaltungen

Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert

Termin: 30.11.2012 - 01.12.2012

Ort: Konferenzsaal im Haus 1 der Friedrich-Ebert-Stiftung Hiroshimastraße 17 · 10785 Berlin-Tiergarten

Symposion

Veranstalter: DTIEV, Friedrich-Ebert-Stiftung Veranstaltungsort: Forum Berlin


 
Illustration Foto: Jens Schicke
Sitzungssaal im Forum Berlin, 2012

Veranstalter:

FernUniversität in Hagen
Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (DTIEV)

Friedrich-Ebert-Stiftung
Forum Berlin

Programm [pdf]

Tagungsbericht

[mehr erfahren]

Gemeinsame Fachtagung des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen und des Forums Berlin der Friedrich-Ebert Stiftung am 30. November und 1. Dezember 2012 in Berlin

Irina Mohr (Leiterin FES Forum Berlin) hob in ihrer Begrüßung den Charakter der Tagung als „Begegnung zwischen Geistes- und Begriffswelten“ hervor. Der Rektor der FernUniversität in Hagen, Helmut Hoyer, verwies auf die aktuelle schwierige europäische Situation. Um die Zukunft Europas zu entwickeln, müsse die Vergangenheit verstanden werden, wozu die Tagung einen wertvollen Beitrag leiste, so Hoyer.

Peter Brandt
Foto: Jens Schicke

Peter Brandt (Hagen) umriss in seinem Einleitungsvortrag „Europäische Verfassungswissenschaften. Konzepte, Methoden, Analysen“ den jeweiligen Zugang der Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaften zum Phänomen der Verfassung beziehungsweise des Konstitutionalismus, insbesondere auf europäischer Ebene. In diesem Zusammenhang konstatierte er, dass die europäische Integration nie geradlinig verlaufen, sondern ein ständiges Feld der Auseinandersetzung gewesen sei. Peter Schiffauer (Hagen/Brüssel) stellte in seinem Beitrag zur ersten Sektion „Historische Perspektive und juristische Methode in der Europäischen Verfassungswissenschaft“ zehn Thesen für ein pragmatisches Sprachverständnis in der Verfassungswissenschaft auf. „Sprache ist das Medium der Verfassungswissenschaft. Die Methoden ihrer Einzelwissenschaften sind unterschiedlich“, betonte Schiffauer.

Die anschließende Diskussion leitete Oskar Reichmann (Heidelberg). Andreas Haratsch(Hagen) wies in seinem Diskussionsbeitrag darauf hin, dass bereits innerhalb der eigenen Fachrichtung die Schwierigkeit bestehe, sich auf bestimmte Begriffsinhalte zu einigen. Dies würde noch einmal schwieriger, wenn verschiedene Disziplinen zusammenkämen, die die gleichen Ausdrücke verwendeten, aber jeweils völlig unterschiedliche Verständnisse davon hätten. Martin Kirsch (Potsdam) ging auf den Konstitutionalismusbegriff ein. In Bezug auf dessen wechselvolle Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert problematisierte er die Benutzung eines diesbezüglich einheitlichen Begriffs, und setzte sich insbesondere mit dem konstitutionellen Charakter des Deutschen Kaiserreichs auseinander.

Der Nachmittag des ersten Tages stand unter dem Thema „Methodenpluralismus und Methodenintegration in der Verfassungsgeschichte, aus der Sicht der Einzelwissenschaften“. Dian Schefold (Bremen) und Kathrin Groh(München) gaben den Auftakt mit ihren Vorträgen zu „Staatsrechtslehre: Normativ und sozialwissenschaftlich orientierte Verfassungsgeschichte“. Schefoldskizzierte den Verfassungswandel von der Antike über die soziologische Annäherung Georg Jellineks, Hermann Hellers und Hans Kelsens an den juristischen Verfassungsbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Er vertrat die Ansicht, Verfassungswandel müsse an Grenzen stoßen. „Es ist Aufgabe der Verfassungsgeschichte, diese Grenzen nachzuzeichnen“, führte er weiter aus. Groh widmete sich zu Beginn ihres Vortrages der Methodengeschichte als Teil der Verfassungsgeschichte. Sie verdeutlichte, dass die rechtswissenschaftliche Methodenlehre machtverschiebend wirken könne, je nachdem welcher Auslegungsinstanz sie die Letztentscheidungsbefugnis über Verfassungsfragen explizit oder implizit zuweise. Anhand der Maastricht- und der Lissabon-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nahm sie sich hierfür beispielhaft der Problematik der Integrations- oder auch Konstitutionalisierungsgeschwindigkeit an.

Ingolf Pernice (Berlin) knüpfte in der nachfolgenden Diskussion an den Gedanken von Kathrin Groh an, wonach Verfassungsauslegung darauf ziele, aus dem Geschriebenen den Sinn zu reproduzieren. Er stellte die Frage, ob es anstelle von reproduzieren nicht produzieren heißen müsse. Seiner Ansicht nach sei es angebracht, über Methoden in der Verfassungsinterpretation kreativ nachzudenken. Peter Schiffauer thematisierte die adäquate Abgrenzung der Felder von Recht und Politik in einer Gesellschaft, die sich in der Transformation der Nationalstaaten zu etwas anderem befände. Um eine Antwort darauf müsse noch gerungen werden. Die Diskussionsleitung lag bei Christoph Schönberger(Konstanz).

Hieran schlossen sich die Vorträge von Detlef Lehnert (Berlin) und Hans Vorländer(Dresden) unter dem Titel„Politikwissenschaft: Typologisierende und systemanalytische Verfassungsgeschichte“ an. Im Rahmen der Polity-Forschung nahm Lehnert eine kritische Bestandsanalyse der Politologie als Verfassungswissenschaft vor. Er kam zu dem Ergebnis, dass Polity-Forschung im Sinne „verfasster Politik“ wohl auch eine geeignete Brückenkategorie von der Politikwissenschaft zur Staatsrechtslehre und Verfassungsgeschichte sei. Insofern öffne die einzelwissenschaftliche Defizitanalyse zugleich eine interdisziplinäre Perspektive. Demgegenüber gelänge ein doppelter interdisziplinärer Brückenschlag aber fast niemals. Vorländer erläuterte den Dresdner Ansatz – „Verfassung als symbolische Ordnung“ –, der in der Genese auch auf andere Vertreter der historischen und institutionellen Analyse zurückgehe. Der Dresdner Ansatz gäbe entscheidende Impulse etwa zur Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die eine Deutungsmacht darstelle und auf der institutionelles Vertrauen beruhe. Verfassungsgerichte seien politische Akteure.

Im Anschluss an die Vorträge moderierte Ingolf Pernice die Diskussion. Dian Schefoldnahm auf den weiten Verfassungsbegriff Bezug. Es sei jedoch zu beachten, dass der Verfassungsbegriff nach wie vor an die staatliche Verfassungsgebung geknüpft sei und insofern Probleme mit der Bewertung des europäischen Einigungsprozesses auftauchten. Wesentlich sei daher die Beantwortung der Frage, ob die Europäische Verfassung mit einer Staatsverfassung vergleichbar sei, obwohl die Europäische Union keinen staatlichen Charakter besitze. Paolo Ridola (Rom) versuchte, eine Antwort auf die Methode der Verfassungswissenschaft zu finden. Als einen Annäherungspunkt führte er die Verfassungsvergleichung an, die nicht mechanisch mit Rezeptionen arbeite, sondern die sozialen Prozesse, die in der Kultur und der Geschichte einer Gesellschaft tiefgreifend verwurzelt seien, einbeziehe.

Blick in den Tagungssaal
Foto: Jens Schicke

Den ersten Veranstaltungstag beendeten Ewald Grothe (Wuppertal) und Reinhard Blänkner(Frankfurt/Oder) mit ihren geschichtswissenschaftlichen Beiträgen zur struktur- und kulturbezogenen Verfassungsgeschichte. Grothenäherte sich dem Thema in verschiedenen Facetten, indem er von der Definition von Struktur ausging, dann den Strukturbegriff in der Verfassungsgeschichtsschreibung und schließlich die strukturbezogene Verfassungsgeschichte heute untersuchte. Verfasungsgeschichte könne sowohl kultur- als auch strukturgeschichtlich betrieben werden, resümierte Grothe. Reinhard Blänkner warf mit „Globalisierung und Verfassung. Konstitutionalisierung der politisch-juridischen Ordnung im globalen Kontext des langen 18. Jahrhunderts“ eine neue Perspektive auf die Verfassung. Er skizzierte einen weiterführenden globalgeschichtlichen Ansatz in der Verfassungsgeschichte. Blänkners Vortrag ging von der These aus, dass Formierung und Ausbreitung des Konstitutionalismus eine Antwort auf Problemlagen seien, die maßgeblich durch die Verflechtung und Verdichtung der frühneuzeitlichen Globalisierung ausgelöst worden sei und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Neuordnung des politischen Handlungs- und Kommunikationsraums vornehmlich in der Atlantischen Welt geführt habe.

Wolfgang Reinhard (Freiburg) plädierte in der sich anschließenden Diskussion für die Einführung des Prozessbegriffs anstelle des Strukturbegriffs und dafür, den Konstitutionalismus als Prozessbegriff zu begreifen. Hans-Christof Kraus (Passau) forderte, die Entstehung von konstitutionellen Verfassungen viel genauer zu erforschen. Bislang fehle es vielfach noch an empirischer Grundlage und Archivforschung. Erst auf verbreiteter empirischer Grundlage könne man zu neuen Thesen kommen. Moderiert wurde die Diskussion von Hartwig Brandt (Marburg).

Den zweiten Tag der Fachtagung eröffnete Dieter Gosewinkel (Berlin) mit „Fallstudien zur europäischen Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“. Arthur Schlegelmilch(Hagen) referierte zur „Neuinterpretation der konstitutionellen Monarchie in Deutschland und Österreich“. Schlegelmilch untersuchte dabei die Genese des monarchischen Konstitutionalismus in Deutschland, sein theoretisches Fundament, die Funktionsfähigkeit des Administrations- und Gewaltenteilungs­systems und seine Perspektiven vor dem Hintergrund der europäischen Entwicklung. Er blickte in diesem Zusammenhang zurück in die europäische Verfassungslandschaft des 19. Jahrhunderts, um deutlich zu machen, dass das konstitutionell-monarchische System progressive Entwicklungspotenziale ohne zwangsläufige Parlamentarisierungsperspektive ebenso beinhalten konnte wie restaurative, reaktionäre und selbstzerstörerische Rückschritte. Hans-Christof Kraus setzte mit seinem Vortrag „Entwicklung der parlamentarischen Monarchie in Großbritannien“ die Sektion fort. Zu Beginn wies er darauf hin, dass eine idealtypische Betrachtungsweise, die die konstitutionelle Monarchie als Machtdualismus zwischen Parlament und Krone, die parlamentarische Monarchie hingegen als reine Parlamentsherrschaft definiere, zu kurz greife. Ausgehend von diesem Befund skizzierte er das britische Souveränitäts- und Verfassungsverständnis bis in das 20. Jahrhundert hinein. Kraus resümierte, dass der Krone bedeutende Machtpotenziale, nicht zuletzt im Bereich der symbolischen Politik, verblieben wären, die im Rahmen bestimmter günstiger politischer Konstellationen aktiviert werden konnten.

Reinhard Blänkner stellte in der Diskussion die These auf, dass England oder das britische System der Lakmustest für Ordnungskategorien sei. Wenn England nicht in dieses Modell passe, sei es nicht ein Problem der englischen Geschichte, sondern der Kategorienbildung, denn Sonderwege gäbe es nicht. Dian Schefold verwies in Bezug auf das Referat von Arthur Schlegelmilch darauf, dass die Frage zwischen Übergangsphänomen und eigenständigem Typ eine begriffskonstruktive Frage sei. Es sei unabdingbar, dass jedes Verfassungssystem eine Tendenz zum Wandel habe, bekräftigte Schefold.

Die abschließende Sektion unter der Leitung von Wolfgang Reinhard begann Stefaan Marteel(Nimwegen) mit dem „Belgischen Konstitutionalismus ab 1831“. Eine besondere Bedeutung maß er der Debatte über den Teilaspekt Religion und Religionsfreiheit bei, die den intellektuellen Kontext der belgischen Verfassung bestimmt habe. Er schlussfolgerte, dass das ausgeprägte Freiheitskonzept der Verfassungsväter und ihre Auffassung, dass der Staat sich so wenig wie möglich mit dem nichtstaatlichen Bereich einlassen sollte, letztendlich auch zu dem Fehlen einer Nationalgesellschaft beigetragen habe. Angelo Antonio Cervati (Rom) sprach in seinem Beitrag über „Italien zwischen Konstitutionalismus und Faschismus“. Er problematisierte das Verhältnis von Verfassung und politischem Leben. Die Kultur ist dabei für Cervatibedeutungsvoller als die Normativität, weil es in Italiens Geschichte eine Verfassungserfahrung und ein konstitutionelles Denken gab, die von einer unleugbaren Diskontinuität und vor allem von harten Widersprüchen geprägt waren. Schließlich sei die Normativität sehr schwer als Messlatte an Italiens Verfassungsgeschichte anzupassen.

Paolo Ridola wies im Hinblick auf die Vorträge von Marteel und Cervati auf wichtige Unterschiede zwischen Belgien und Italien hin. Er sah aber auch gemeinsame problematische Knotenpunkte bei den Erfahrungen dieser beiden Länder. Hans-Christof Kraus schlug den Bogen zum Vortag, indem er die Verfassung der Römischen Republik von 1870 mit dem Begriff der semantischen Verfassung in Verbindung brachte, den Dian Schefold in die Tagung eingebracht hatte.

In seinem Schlusswort würdigte Peter Brandt den während der Tagung geführten interdisziplinären Dialog, über den sich die einzelnen Fachrichtungen angenähert und verständigt hätten.

Als Fazit der Tagung lässt sich festhalten, dass es gelungen ist, die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Thema „Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert“ aus Sicht der drei Fachrichtungen – der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft – aufzuzeigen. Innerhalb und zwischen den einzelnen Disziplinen entwickelte sich eine Diskussion, in der neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede hervortraten, die in der Herangehensweise und Deutung der Thematik zum Ausdruck kamen. Die Tagung kann damit als geeigneter Auftakt angesehen werden, um den begonnenen Diskurs fortzusetzen.

Die Ergebnisse der Tagung werden veröffentlicht.

Ingrid Piela und Thomas Herwig

Dieser Beitrag ist ebenso unter der Nr. 56 in der Rubrik Tagungsberichte zu finden auf

http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de.

DTIEV | 08.04.2024