Geschichtswoche 2011 - Kolloquiumsvortrag Prof. Sokoll

Das kulturelle Gehäuse der Moderne: Max Webers ‚Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‘ (1904/05)

Historische Variationen über ein soziologisches Thema

Während Webers ‚Protestantische Ethik‘ (PE) in der Soziologie als kanonischer Text gilt und nach wie vor intensiv diskutiert wird (etwa im Kontext aktueller Theorien der [Post]Moderne), tun die Historiker seit langem so, als habe sich die Sache erledigt. Webers These von der protestantischen Arbeitsethik als dem ‚innerem‘ Antrieb des modernen Kapitalismus halte dem Befund der Quellen nicht stand. Ich teile diese Einschätzung nicht und halte die meisten historischen Einwände gegen die PE für verfehlt, weil sie Webers Ansatz entweder missverstehen oder seine Problemstellung unterlaufen.

Weber beschreibt den ‚psychologischen‘ Ursprung des modernen Kapitalismus als fundamentalen Umbruch in der Haltung zur Arbeit. Indem sich der moderne Unternehmer derselben Leistungsorientierung unterwirft, die er von seinen Arbeitern vertraglich erwartet, bricht er radikal mit der für die Führungseliten aller alteuropäischen Gesellschaften typischen Vorstellung, dass bäuerliche und gewerbliche Arbeit grundsätzlich ‚schmutzig‘ sei und ein untrügliches Zeichen der Unfreiheit darstelle. Dagegen steht nun die sozialethische Aufwertung der Arbeit im Protestantismus (Webers treffende Formel: Berufsarbeit als „innerweltliche Askese“), die sich zugleich als kulturelle Bändigung des Erwerbstriebes darstellt.

Diese Deutung wird durch die Ergebnisse der modernen historischen Forschung im Wesentlichen bestätigt – auch wenn die meisten Historiker dies nicht sehen (wollen). Daraus, dass für Weber die Rationalität des modernen Marktsystems ohne unternehmerische Verantwortung nicht denkbar ist, erhellt zugleich die ungebrochene Aktualität seiner Problemstellung. Die Frage bleibt, warum die Historikerzunft der PE immer noch ausweicht. Vielleicht deshalb, weil ihr Interesse an einer Theorie der Moderne so gering ist?

Hinweis: In der Diskussion haben nicht alle Frager gewartet, bis sie das Mikrofon erhalten haben. Wir bitten, das zu entschuldigen.

Irmgard Hartenstein | 08.04.2024