Patient*innen in Bits und Bytes: Die digitale Revolution des Gesundheitswesens im Fokus von Wissenschaft und Praxis

Expert*innen diskutieren die digitale Revolution im Gesundheitswesen

Eine Nachberichterstattung der Veranstaltung im Rahmen der Vortragsreihe Gespräche am Weinberg – Wissenschaft und Wirtschaft im Dialog am Campus Stuttgart der FernUniversität in Hagen und online am 23.10.2024

Digitale Transformation als vielschichtige Herausforderung

Die digitale Revolution im Gesundheitswesen ist weitaus komplexer als gedacht – das wurde bei der jüngsten Veranstaltung „Gespräche am Weinberg“ deutlich. Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis beleuchteten die vielfältigen Dimensionen der Digitalisierung, die weit über reine Technologie hinausgehen. „Die digitale Transformation bringt viele Punkte aufs Tableau, die jetzt sichtbar werden - die was mit digitalen Anwendungen zu tun haben, aber auch organisatorischer Natur sind, die menschlicher Natur sind“, fasste Moderatorin Prof. Dr. Jenny S. Wesche von der FernUniversität Hagen die Komplexität zusammen. Benjamin Finger, Leiter des Telemedizinischen Zentrums am Robert-Bosch-Krankenhaus, betonte dabei den Handlungsdruck: Die Transformation erfolge nicht aus „Bastelei“, sondern aus konkreten Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsgründen.

Einblicke in die Diskussion der Expert*innen
 

Deutschland als Vorreiter bei digitalen Gesundheitsanwendungen

Deutschland hat bei digitalen Gesundheitsanwendungen (DIGAs) eine internationale Spitzenposition eingenommen. „Im Fall der DIGAs hat Deutschland tatsächlich mit dem Digitale Versorgungsgesetz 2019 eine Vorreiterrolle eingenommen“, erklärte Prof. Dr. Till Winkler von der FernUniversität Hagen. Diese therapeutischen Interventionen unterscheiden sich fundamental von herkömmlichen Gesundheits-Apps, da sie klinisch bewertete, zertifizierte Anwendungen darstellen, die nachweislich positive medizinische Outcomes erzielen. Hanna Schuler vom Start-up Coreway stellte ein konkretes Beispiel vor: ein Prognosetool für Patient*innen mit chronischen entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn. „Wir wollen den Betroffenen etwas an die Hand geben, damit sie ihre Krankheit kontrollieren können und nicht umgekehrt“, betonte Schuler. Das System analysiert Herzfrequenzvariabilität mittels Smartwatch und erhebt weitere Vitalparameter, um Krankheitsschübe frühzeitig zu erkennen. „Es ist schön, wenn man einfach so ein bisschen Licht ins Dunkel bringt und die Erkrankung besser verstehen kann“, so Schuler weiter.

Telemedizin als „Systembrecher“ im Krankenhaus

Die Telemedizin etabliert sich als wichtiger Baustein der digitalen Gesundheitsversorgung, stößt aber auf strukturelle Hindernisse. Benjamin Finger vom Telemedizinischen Zentrum des Robert-Bosch-Krankenhauses beschrieb die Herausforderungen offen: „Wir fühlen uns manchmal wie ein Start-up. Wir sind so ein bisschen der Systembrecher, weil wir gar nicht in die typischen Abrechnungs- und Ablaufmechanismen des Krankenhauses reinpassen.“ Das Zentrum arbeitet mit Remote Patient Monitoring, bei dem Patient*innen ihre Aktivitäten über Apps steuern, Symptom-Fragebögen ausfüllen und Vitalparameter übermitteln, während Pflegefachpersonal die Daten fernbetreut auswertet. Prof. Dr. Karolin Kappler von der Katholischen Hochschule NRW wies auf einen wichtigen Erfolgsfaktor hin: Die Akzeptanz solcher Technologien hänge maßgeblich von der Unternehmenskultur ab – Krankenhäuser mit einer bestehenden Offenheit für Wissensaustausch zeigten eine höhere Bereitschaft zur Technologie-Adoption.

Strukturelle und psychologische Hürden bremsen Innovation

Die Implementierung digitaler Gesundheitslösungen stößt auf vielfältige Widerstände, die über technische Probleme hinausgehen. Hanna Schuler identifizierte ein zentrales Problem: „Viele haben das Problem, dass Ärzte DIGAs nicht verschreiben, weil sie das nicht kennen und sagen: Weiß ich nicht, kenne ich nicht, ist mir zu unsicher.“ Start-ups stehen daher vor der schwierigen Entscheidung, ob der zeitliche und finanzielle Aufwand für die DIGA-Zertifizierung lohnt oder ob alternative Wege sinnvoller sind. Prof. Dr. Karolin Kappler warnte vor den psychologischen Auswirkungen der Digitalisierung: Mehr Transparenz und Informationsaustausch könnten bei Ärzt*innen Ängste vor Kontrollverlust schüren, da sich traditionelle Expertise- und Informationsflüsse wandeln. Benjamin Finger verwies zudem auf die Finanzierungsproblematik: Mit dem Auslaufen des Krankenhaus-Zukunfts-Gesetzes werde es für viele Krankenhäuser schwierig, Digitalisierungsvorhaben zu refinanzieren.

Drei Säulen der digitalen Gesundheitsstrategie

Prof. Dr. Till Winkler brachte die Ziele der Digitalisierung auf den Punkt: „Digitalisierung im Gesundheitswesen ist kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Ziel.“ Er identifizierte drei zentrale Herausforderungen: Qualitätsverbesserung, Kosteneffizienz und besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung. Eine alternde Gesellschaft mit zunehmenden chronischen Erkrankungen und Multimorbiditäten stelle das System vor wachsende Probleme, während gleichzeitig die Krankenkassenbeiträge steigen. Winkler nannte ein konkretes Beispiel für Versorgungslücken: „Versuchen Sie mal in der Großstadt einen Termin zu bekommen für eine psychotherapeutische Behandlung. Da warten Sie aber mal sechs Monate oder länger.“ DIGAs könnten hier als Brückentechnologie fungieren. Benjamin Finger betonte jedoch, dass die Implementierung zunächst erhebliche Zeitinvestitionen für Erklärung und Verankerung der neuen Systeme erfordere.

Vom reaktiven Krankheitssystem zum proaktiven Gesundheitssystem

Die Diskussion mündete in weitreichende Zukunftsvisionen für das Gesundheitswesen. Prof. Dr. Till Winkler plädierte für einen fundamentalen Paradigmenwechsel: Das System müsse sich von einem reaktiven „Krankheitssystem“ zu einem proaktiven Gesundheitssystem wandeln, das Bürgerinnen dabei unterstützt, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen, bevor Krankheiten auftreten. Prof. Dr. Karolin Kappler sieht es nicht als revolutionär an, sondern betont, dass es eine Entwicklung sein sollte, die nicht „wie eine Kontrarevolution wieder zurückgeht, sondern mit den Menschen mitgedacht, die Technologien im Sinne der Menschen und deren Gesundheit einzusetzen.“ Hanna Schuler forderte mehr Partizipation aller Akteure: Patientinnen, Ärzt*innen, Krankenkassen und Politik müssten gemeinsam entwickeln und Aufklärung betreiben. Benjamin Finger betonte die Bedeutung der menschlichen Komponente: Trotz aller Technologie bleibe der persönliche Kontakt durch Beratungsgespräche und Unterstützung das führende System. Die Herausforderungen reichen von der Präzision von Algorithmen über Datenschutz bis hin zu komplexen Zertifizierungsverfahren – doch der Weg zu einem wirklich patientenorientierten, digitalen Gesundheitssystem hat bereits begonnen.

Anita Mörth | 20.10.2025