Online-Seminar (per Zoom)
- Thema:
- Opfer, Geschlecht und Drama im 20. Jahrhundert: Horváth, Dürrenmatt, Vilar, Strauß
- Veranstaltungstyp:
- Online-Seminar
- Adressatenkreis:
- BA KuWi: Modul L3; Modul L4; Modul L5; MA NdL: Modul MANDL 1; Modul MANDL 2; Modul MANDL 3; Modul MANDL 4; Modul MANDL 5; Modul MANDL 6; Modul MANDL 7; MA EuMo: Modul 4L; Modul 5L; und alle interessierten Studierenden
- Ort:
- online per Zoom
- Termin:
- 20.05.2022
bis
10.06.2022 - Zeitraum:
- Freitag, 20. Mai, 17.30 - 19.00,
Samstag 21. Mai, 10.00-12.00 Uhr,
Freitag, 3. Juni, 17.30 - 19.00 Uhr,
Samstag, 4. Juni, 10.00-12.00 Uhr,
Freitag, 10. Juni, 17.30-19.00 Uhr. - Leitung:
-
Professor Dr. Uwe Steiner
Dr. Wim Peeters
Das Seminar ist ausgebucht!
Wir wollen in diesem Semester die in vorausgegangenen Seminaren schon erkundete Fragestellung auf das 20. Jahrhundert ausdehnen. Sie müssen, um teilnehmen zu können, weder eines dieser Seminare besucht haben. In der ersten Sitzung werden wir einen Überblick geben und in die Thematik einführen.
Und die lautet wie folgt:
„Die tragische Dichtung ruht auf der Opferidee“, schreibt Walter Benjamin 1928 in seinem Buch über den Ursprung des deutschen Trauerspiels. Althistorische und kulturanthropologische Forschungen haben diese These weitgehend bestätigt. Die antike Tragödie ist aller Wahrscheinlichkeit nach aus opferkulturellen Ursprüngen entstanden, der tragische Held lässt sich als Sublimat der kulturellen Institution des repräsentativen Opfers, als Transformation des Sündenbocks begreifen. Im 18. Jahrhundert vollzieht sich nun auf der Theaterbühne eine folgenreiche Umcodierung der Position des tragischen Helden:Um der angestrebten Wirkung willen, der empathischen Identifikation der Zuschauer mit dem Schicksal des tragischen Opfers, besetzen im bürgerlichen Trauerspiel, der Modegattung des späten 18. Jahrhunderts, ausschließlich tugendhafte Töchter diese Prestigeposition. Dabei wird die Theatralität des Opfers im Drama selbst zugleich markiert und einer dramaturgischen Grundlagenreflexion unterzogen wie sein Geschlecht. Am wirkungsmächtigsten sollte Lessings Emilia Galotti diese Umcodierung des tragischen Opfers und die Projektion von geschlechteranthropologische Schematismen auf Opfer- und Täterschaften vornehmen. Keine Dramatik, so zumindest der Eindruck, kommt seither daran vorbei, explizit oder implizit auf diese Modelle zurückzugreifen.
Nachdem wir uns in vorangegangenen Semestern mit Hebbel, Grillparzer, Wagner, Hofmannsthal, Maeterlinck oder Wedekind befasst haben, diskutieren wir jetzt einschlägig interessante Dramen des 20. Jahrhunderts. Ödon von Horvaths Glaube, Liebe, Hoffnung. Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern (1932) handelt vom Leidensweg einer jungen liebenden Frau, die Opfer ihres Aufstiegsbestrebens wird; Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame. Eine Tragödie (1956/ 1981) fragt u.a., inwiefern zur Reinigung der Gesellschaft Opfer eingefordert werden dürften, Esther Vilars Helmer oder Ein Puppenheim. Variationen über ein Thema von Henrik Ibsen (1981) überschreibt eines der berühmtesten, die Geschlechterproblematik in Szene setzenden Dramen des 19. Jahrhunderts, die Nora. Botho Strauß konfrontiert in Kalldewey. Farce (1981) die Geschlechter und befragt zugleich die Gattungskonventionen der Tragödie. Diese Dramen haben auf den ersten Blick ästhetisch nicht viele Gemeinsamkeiten. Auf den zweiten Blick aber offenbaren sie doch ein gemeinsames Muster: In ihnen wiederholt sich eine Konstellation, die die moderne Dramatik seit Lessing prägt und die sich Zuge der geschlechteranthropologischen Wende schon um 1800 eingespielt zu haben scheint. In dieser Konstellation stehen negativierte Männlichkeit und weibliche Opferschaft einander im Spannungsfeld zwischen Viktimisierung und Sakrifizierung gegenüber. Auch Dramen des 20. Jahrhunderts bringen weiterhin die Funktion der tragischen Heldin mit der kulturellen Semantik der Geschlechter in Verbindung.
Im einführenden Teil werden uns die opferkulturellen Ursprünge der Tragödie vergegenwärtigen, die Funktion des Theaters als Beobachtung der Differenz zwischen Interaktion und Gesellschaft befragen, um schließlich den Eintrag der modernen Geschlechtersemantik in die dramaturgischen Konstellationen zu reflektieren.
Elektronische Auszüge aus den folgenden Texten werden Ihnen zur Verfügung gestellt:
Walter Burkert: Griechische Tragödie und Opferritual, in ders.: Wilder Ursprung. Opferritual und Mythos bei den Griechen, Berlin 1990, S. 13-39.
René Girard: Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1992.
Ders.: Der Sündenbock, Zürich/Düsseldorf 1998, insb. S. 7 – 23.
Christoph Kucklick: Das unmoralische Geschlecht. Zur Geburt der negativen Andrologie, Frankfurt a. M. 2008.
Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen 1990, hier Kap. III: Das Drama.
Valerie Solanas: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer. S.C.U.M (1968), aus dem amerikanischen Englisch von Nils-Thomas Lindquist, Berlin 2022.
Zur Vorbereitung und Einführung empfehlen wir diesen Aufsatz:
Uwe C. Steiner: Gerechtigkeit für Odoardo Galotti. Ein Theatercoup mit Folgen: Wie Lessing das tragische Opfer geschlechteranthropologisch umwidmet und damit von Bodmer bis zur Gegenwart wirkt, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 95, Heft 1/März 2021, S. 43-80. http://link.springer.com/article/10.1007/s41245-021-00124-8
Folgende Texte sind unsere Primärliteratur:
Odön von Horváth: Glaube Liebe Hoffnung. Ein Totentanz (1932), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007.
Friedrich Dürrenmatt: Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie, Neufassung 1980, Zürich: Diogenes 1980.
Esther Vilar: Helmer oder Ein Puppenheim. Variation über ein Thema von Henrik Ibsen, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein 1981.
Botho Strauß: „Kalldewey, Farce“ (1981), in ders.: Theaterstücke II. München, Wien: Hanser 1991, S. 7-72.