Bilder machen historische Übergänge deutlich

Für Prof. Alexandra Przyrembel können durch die Analyse moralpolitischer Wertvorstellungen, „Feindgefühle“ und moralischer Handlungen Brüche in der Geschichte Europas beobachtet werden.


„Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte von Krieg und Gewalt. Gewalt wird dabei auf verschiedenste Weise symbolisch dargestellt.“ Nicht zuletzt angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in den USA ist für Prof. Dr. Alexandra Przyrembel die Analyse von moralpolitischen Wertvorstellungen, von „Feindgefühlen“ und von moralischen Handlungen eine Möglichkeit, die Übergänge und Brüche in der Geschichte Europas wachsam zu beobachten: „An ihnen lassen sich Übergänge von einer alten in eine neue Zeit festmachen“, so die Leiterin des Lehrgebiets Geschichte der Europäischen Moderne an der FernUniversität in Hagen.

In ihrer Antrittsvorlesung „Moralpolitik und die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert“ ging es ihr vor allem auch um die Frage, wie die Geschichte der Europäischen Moderne vor dem Hintergrund moralischer Wertvorstellungen und Emotionen geschrieben werden könnte, die immer auch visuell in Szene gesetzt werden.

Prof. Alexandra Przrembel
Prof. Alexandra Przrembel

Bildliche Darstellung und Moral

Mit seinen berühmten Fotos aus dem Spanischen Bürgerkrieg (1936 – 1939) leitete der Fotograf Robert Capa einen Wendepunkt in der visuellen Darstellung von Kriegsgewalt ein. Zu seiner bekannten Aufnahme eines fallenden Soldaten verwies Capa auf die Macht der Fotografie, die es ermögliche, authentische Bilder einzufangen: „Die Bilder sind da, und Du musst Dir sie einfach nehmen. Die Wahrheit ist das beste Bild, die beste Propaganda.“

Sprache als Scharnier

Wie lässt sich die Geschichte Europas schreiben? Jede Generation von Historikern, so betont die Referentin, habe unterschiedliche Perspektiven hervorgebracht. Der Schweizer Historiker Rafael Gross beispielsweise schlägt vor, so Przyrembel, moralische Deutungsmuster und Mentalitäten genauer in den Blick zu nehmen, um politisches Handeln und Vernichtungsgewalt während des Nationalsozialismus zu verstehen. Demnach knüpften moralische Wertvorstellungen und Emotionen der Nationalsozialisten an Vorstellungen der bürgerlichen deutschen Gesellschaft an, die seit dem 19. Jahrhundert tradiert wurden, etwa Treue, Anstand, Ehre und Kameradschaft.

Vor allem der Ehr-Begriff erwies sich als Scharnier zwischen der politischen Sprache der Weimarer Republik und jener des Nationalsozialismus‘. Wie sehr er die alltägliche Sprache eroberte, zeigt Meyers Konversationslexikon der späten 1930er Jahre: „Einstehen für die Ehre des Führers ist die Treue, der Gehorsam, für die Ehre der Bluts und Volksgenossen die Gemeinschaft und die Kameradschaft.“ Forschungen zeigen, wie eng Rassenehre und Gewalt gegenüber Juden miteinander verzahnt waren.

Antisemitische Gefühle wurden bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vehement tradiert. Auch Briefe aus dem Umfeld von Reichskanzler Bismarck beweisen, dass der „antisemitische Code“ (Shulamith Volkov) immer emotionale und moralpolitische Dimensionen hatte. Bismarck setzte sich etwa im Preußischen Landtag dagegen ein, dass Juden „in einem christlichen Staat ein obrigkeitliches Amt“ bekleiden dürfen.

Das Foto eines soeben getroffenen Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg, das Professorin Przyrembel auf eine Leinwand projizieren ließ, machte Robert Capa weltberühmt.
Das Foto des fallenden Soldaten im Spanischen Bürgerkrieg machte Robert Capa weltberühmt.

Erschreckend normale Massenmörder

Eine besondere Herausforderung für Geschichtswissenschaft ist es, die Motivationen der vielen nationalsozialistischen Direkttäter zu verstehen, die für den Massenmord an Juden unmittelbar verantwortlich waren. In dem berühmten Interview, das Hannah Arendt dem Fernsehjournalisten Günter Gaus nach der deutschen Veröffentlichung ihres Prozessberichts „Eichmann in Jerusalem. Von der Banalität des Bösen“ zu Beginn der 1960er Jahre gab, benennt sie noch einmal die Beweggründe für ihre Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann. Der Leiter des NS-Reichssicherheitshauptamtes war verantwortlich für die Deportation der Juden: „Das Beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.“ Diese Mischung aus Normalität und unmittelbarer Verantwortung für eine neue Dimension staatlicher Gewalt findet sich bei vielen NS-Tätern.

Politik der Visualisierungen

Noch komplizierter wird die Analyse moralischer Wertvorstellungen und Emotionen oder auch moral-politischer Programmatiken bei visuellen Darstellungen. Vor allem bei Fotografien gewalttätiger Handlungen. Capa, ein Meister solcher Inszenierungen, wird in Verbindung gebracht mit dem Entstehen der teilnehmenden Kriegsberichterstattung. Seine Fotoreportagen stellte er zu thematischen Bildstrecken zusammen

Beim „Militainment“ sorgen verschiedene fotografische Techniken sowie die Einbettung der Fotografien in eine erzählerische Rahmenhandlung für Nähe zum Kriegsgeschehen: Fotografen wurden zu Teilnehmern des Geschehens. Gerta Taro wollte, so Przyrembel, „das gefahrvolle Leben derer teilen, deren Widerstand sie dokumentieren und unterstützen wollte“.

Der „embedded Photographer“ machte aus dem Krieg ein Spiel, Gewalt wurde zur Unterhaltung. Die kritisch-beobachtende Perspektive wurde abgelöst vom Angebot an die Betrachter der Aufnahmen, sich mit den Soldaten zu identifizieren.

Der Historiker Gerhard Paul hat auf diese Dimension von Fotografien, vor allem aber von Filmen und Wochenschauen hingewiesen. Angesichts der visuellen Gewalt-Inszenierung ist hier eine Interpretation moralpolitischer Perspektiven jenseits des Offensichtlichen – der Gefahr, Gewalt zu ästhetisieren und zu legitimieren – ohne eine genauere mikrohistorische Betrachtung einzelner Fotografien schwer. Sie muss neben der Wirkungsgeschichte des einzelnen Fotos auch die Arbeiten der Fotografen insgesamt beachten. Die Antifaschisten Taro und Capa etwa waren aus Ungarn und Deutschland geflohen, in Spanien nahmen sie zunehmend zivile Opfer in den Blick. Vor allem Flüchtlinge.

Gebannt starrten der damalige US-Präsident Barrack Obama (2.v. li.) und politische Repräsentaninnen und Repräsentanten auf die Übertragung aus Pakistan, bei der Osama bin Laden erschossen wurde. Das Geschehen selbst ist nicht zu sehen.
Gebannt starrten der damalige US-Präsident Barrack Obama (2.v. li.) und politische Repräsentaninnen und Repräsentanten auf die Übertragung der Kommando-Aktion in Pakistan, bei der Osama bin Laden erschossen wurde. Das Geschehen selbst ist nicht zu sehen. (Foto: Weißes Haus, Pete Souza)

Fundamentaler Wandel der Visualierung

Die Auseinandersetzung mit Gewalt und vor allem die visuelle Kommunikation darüber wandelte sich am Ende des 20. Jahrhunderts fundamental, vor allem die visuelle Repräsentation staatlicher Macht. Deutlich wird dies etwa an einem Foto aus dem Weißen Hauses: Pete Souza, der offizielle Fotograph des US-Präsidenten, nahm Barack Obama und weitere politische Repräsentanten in dem Moment auf, als Osama bin Laden in der Nacht zum 2. Mai 2011 in Pakistan von US-Soldaten erschossen wurde. Habituell und durch seine legere Kleidung ist Obama deutlich als Entscheidungsträger zu erkennen, obgleich er im Hintergrund platziert ist. Außenministerin Hillary Clintons Hand vor dem geöffneten Mund lässt die politische Brisanz erahnen.

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp wies auf eine spezifische Dissonanz dieser Fotografie hin. Die Tötung des Terroristen ist für die meisten Menschen im Westen rechtmäßig, gleichzeitig ist die Entscheidung völkerrechtlich problematisch: „Die Fotografie bekundet das Ungeheure des Vorgangs, um die rechtliche Problematik zu überspielen“, zitierte Przyrembel ihn.

In Souzas Foto ist das moralpolitische Dilemma der Entscheidung abwesend, so die Beobachtung von Alexandra Przyrembel. Der Tötungsvorgang wird nicht gezeigt, wohl aber die Zeugenschaft durch die Politik. Przyrembel: „Die Fotografie wurde bereits am 2. Mai 2011 mit offiziellen Kommentaren des Weißen Haus veröffentlich, als würde das moralpolitische Dilemma damit an die Öffentlichkeit zurückgegeben. Während ein Anliegen von Kriegsfotografie die Herstellung von Empathie mit den Opfern ist, ging es mit dieser Veröffentlichung auch um die Teilung von Wissen.“

In ihrem Überblick über die Geschichte von Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert, wie sie Alexandra Przyrembel exemplarisch an unterschiedlichen Medien vom Foto bis zur Briefkultur festmachte, plädierte die Referentin auch dafür, moralpolitische Wertvorstellungen und Emotionen genauer in den Blick zu nehmen – und dies vor allem auch in transnationaler Dimension.

Die Antrittsvorlesung fand am 14.12.2016 statt.

Gerd Dapprich | 28.02.2017