Zusammen Texte erschließen mit „Social Reading“

In seinem Seminar erprobte Privatdozent Jens Lemanski einen neuen didaktischen Ansatz: Die Teilnehmenden bearbeiteten gemeinsam auf digitalem Weg ein philosophisches Werk.


Portrait von Jens Lemanski Foto: FernUniversität
Didaktische Experimentierfreude: Jens Lemanski setzte bei der Konzeption seines Seminars auf „Social Reading“.

Frontalunterricht in der Gruppe, dann alleine die Inhalte pauken – so oder ähnlich laufen viele Lehrveranstaltungen ab. Einen anderen didaktischen Weg beschritt PD Dr. Jens Lemanski mit seinem Seminar zur Antiken Logik im vergangenen Wintersemester an der FernUniversität in Hagen: Der Wissenschaftliche Mitarbeiter im Lehrgebiet Philosophie I (Prof. Dr. Hubertus Busche) setzte ganz auf die Zusammenarbeit der Studierenden untereinander. Ein gemeinsamer Austausch über die Inhalte sollte bereits vor der eigentlichen Lehrveranstaltung stattfinden.

Um diese Vorgehensweise möglich zu machen, orientierte sich Jens Lemanski an Praktiken des „Social Reading“: Mit Hilfe eines webbasierten Tools arbeiten die Studierenden dabei über einen langen Zeitraum gemeinsam an einem Text. Rückenwind für den experimentellen Aufbau seines Seminars erhielt der Dozent von Markus Kroll, Fachmediendidaktiker der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften. Im Rahmen des Projekt Lehrbetriebs an der FernUniversität arbeitet dieser daran, neuartige didaktische Konzepte für den Pilotstudiengang B.A. Kulturwissenschaften zu entwickeln.

Gemeinsame Auseinandersetzung mit Texten

„‚Social Reading‘ ist eine Methode, mit der Studierende gemeinsam an einem Text arbeiten. Im Seminar von Jens Lemanski erstellten sie sozusagen einen ausführlichen Kommentar“, erklärt Markus Kroll. Die zugrundeliegende Idee sei nicht neu: In der analogen Welt tauschen sich Menschen schon lange in Lesegesellschaften oder Buchclubs über Texte aus. Online-Plattformen und kollaborative Tools bilden die digitalen Pendants zu diesen literarischen Zirkeln. Dabei bietet das webbasierte „Social Reading“ für Fernstudierende den Vorteil, dass sie zwar tiefschürfend, jedoch räumlich und zeitlich flexibel über Texte diskutieren können. Diese Methode eröffne gerade in den überwiegend textbasierten Kulturwissenschaften neue Wege für die Lehre, betont Kroll. Weitere Pilotprojekte in Richtung „Social Reading“ seien bereits in Planung.

Historisches Gemälde einer Lesegesellschaft: Herren mit Zwickern lesen Zeitungen an einem großen runden Tisch. Bild: Johann Peter Hasenclever [Public domain] via Wikimedia Commons
Lesegesellschaft um 1843: Schon lange wenden sich Menschen Texten gemeinschaftlich zu. Beim „Social Reading” passiert das online.

Stetiger Austausch über den Stoff

Die gemeinsame literarische Basis für Lemanskis Seminar bildete Carl von Prantls Überblickswerk Geschichte der Logik im Abendlande, das heutzutage eigentlich nicht mehr aktuell ist. „Die Informationen darin sind teils einseitig, teils veraltet“, so der Dozent. Gerade diese Schwachstellen des historischen Texts dienten jedoch als Grundlage für die kritische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm. Über vier Monate verteilt lasen, kommentierten und verbesserten die Studierenden das Werk in mehreren Arbeitsschritten. Diese waren so vereinheitlicht, dass der laufende Austausch und Vergleich sowie die gegenseitige Kontrolle leichter fielen. Aus der Summe der einzeln bearbeiteten Abschnitte entstand ein umfassendes Gemeinschaftswerk. Am Ende wurde das erlangte Detailwissen bei einem Präsenzseminar mit Referaten und Diskussionen zusammengeführt. Als finale Prüfungsleistung wählten die meisten Studierenden eine Hausarbeit.

Ins kalte Wasser geschmissen wurde jedoch niemand: Jens Lemanski unterstütze die Studierenden bereits in ihrer Vorbereitungsphase via Moodle. „Für jeden der Arbeitsschritte habe ich anhand eines exemplarischen Textabschnitts ein Lehrvideo erstellt, in dem zu sehen war, wie ich mit dem Text umgehe. Das sollten die Studierenden dann für ihren Abschnitt nachmachen.“ Aus Sicht des Wissenschaftlers hat sich die engmaschige Betreuung gelohnt – trotz des Aufwands. Von den Teilnehmenden seien die Erklär-Videos sehr positiv aufgenommen worden. Rasch eigneten sie sich selbstständige und effiziente Arbeitstechniken an.

Screenshot Bild: FernUniversität
Screenshot aus dem Webtool zum „Social Reading“: Links ist der digitalisierte Text. Rechts ermöglicht das Werkzeug den Nutzenden, Textstellen zu markieren und mit Kommentaren zu versehen.

Harte Arbeit, die sich rentiert hat

Insgesamt machte das „Social Reading“ den Lernprozess intensiver. „Man konnte sich gegenseitig Fragen beantworten und weiterhelfen. Das betraf das Textverständnis, die Vorgehensweise, aber auch manche altgriechischen Begriffe in diesem Fall“, resümiert etwa die Seminarteilnehmerin Claudia Anger. Auch ihr Kommilitone Ulrich Will sagt: „Das kleinschrittige Arbeiten führte zu einem disziplinierteren Vorgehen, was sich letztlich auf die Verbesserung meiner Vorbereitung ausgewirkt hat und mir den Text besser erschloss.“ Ein Spaziergang war der Weg bis zum finalen Präsenztreffen im Regionalzentrum Nürnberg jedoch keineswegs. Die Vorbereitung war zeitaufwändig und erforderte im Vergleich zu anderen Seminaren besonders viel Durchhaltewillen, Engagement und Disziplin.

Darüber, dass sein Seminar sehr fordernd war, ist sich Jens Lemanski bewusst. „Die Studierenden hatten jeweils nur 20 bis 25 Seiten zu bearbeiten. Das klang erst einmal verführerisch. Aber die Seiten hatten es in sich.“ Auf das Ergebnis der ausnehmend gründlichen Textarbeit ist der Dozent trotzdem stolz: „Der positive Effekt war, dass im Präsenzseminar alle sehr gut vorbereitet waren. Die Qualität der Referate und des Austauschs war enorm hoch. Über ihre jeweiligen Textabschnitte wussten die Studierenden am Ende oft mehr als ich.“

Benedikt Reuse | 12.07.2019