Folgen der Akademisierung für den Arbeitsmarkt

Drängt der „Akademisierungswahn“ die beruflich-betriebliche Bildung zurück? Das Lehrgebiet Lebenslanges Lernen untersuchte diese Frage in einem Projekt der Hans-Böckler-Stiftung.


Eine junger Mann im Blaumann sitzt über Lernunterlagen. Foto: Westend61/Getty Images
Ausbildung und Studium – der Trend geht zum Dualen Studium.

Immer mehr studieren: 2013 gab es erstmals in Deutschland mehr Studienanfängerinnen und -anfänger als junge Menschen, die eine Ausbildung im dualen System angefangen haben. Überfluten die Absolventinnen und Absolventen der Hochschulen den Arbeitsmarkt und besetzen die Stellen, die beruflich Ausgebildeten vorbehalten waren? „Es kommt darauf an“, sagt Prof. Dr. Uwe Elsholz, Leiter des Lehrgebiets Lebenslanges Lernen an der FernUniversität in Hagen.

In einer Studie für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kamen Elsholz und sein Team zu überraschenden Ergebnissen. „Externe Bachelorabsolventinnen und -absolventen spielen für Unternehmen bei der Rekrutierung kaum eine Rolle. Die Unternehmen bilden bevorzugt selbst aus; entweder mittels dualer Berufsausbildung oder zunehmend über ein duales Studium. Dabei muss man allerdings auf die Branche gucken“, so der Wissenschaftler. Insofern ist die These vom „Akademisierungswahn“ und seinen Verdrängungseffekten differenziert zu betrachten.

Fachkräfte gefragt

Für ihre Untersuchung nahmen Elsholz und seine Wissenschaftliche Mitarbeiterin Ariane Neu drei Branchen in den Fokus: den Einzelhandel, die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sowie die Metall- und Elektrobranche (ME). „Für alle gilt, dass der Bedarf an qualifizierten Fachkräften im mittleren Qualifikationsniveau vorhanden ist – übrigens auch in Zeiten einer fortschreitenden Digitalisierung. Die ist kein Treiber in Richtung Akademisierung“, fasst Elsholz ein Ergebnis aus den geführten Interviews zusammen.

Ariane Neu ergänzt: „Der Einzelhandel setzt stark auf berufliche Qualifikation. Das duale Studium hat sich hier nicht durchgesetzt, der Handel ist sogar wieder davon abgerückt.“ Nach wie vor hält die Fortbildung „Handelsfachwirt/-in“ die Spitzenposition bei den Weiterqualifizierungen in Deutschland. Parallel entwickelt der Handel spezifische Programme für Abiturientinnen und Abiturienten, um leistungsstarke Jugendliche zu gewinnen.

Denn: „Die Nachfragemacht liegt durch den Fachkräftemangel deutlich bei den leistungsstarken Jugendlichen. Die sind es auch, die den Trend zum dualen Studium verstärken“, beschreibt Elsholz. Dies schlägt sich vor allem in den IKT und ME-Branchen nieder. „In der Deutlichkeit hat uns das auch überrascht. Die Unternehmen passen ihre betriebliche Qualifizierungsstrategie an, obwohl unter Umständen nicht klar ist, ob die so ausgebildeten Jugendlichen später entsprechend eingesetzt werden können.“

Wer dual studiert, steht dem Betrieb in der Regel nur blockweise zwischen den Studienphasen zur Verfügung; dennoch: „Die Unternehmen sehen durchaus die Vorteile einer betrieblichen Sozialisation im Vergleich zu einer rein akademischen Bildung, da so die Jugendlichen frühzeitig eine entsprechende Handlungskompetenz im Kontext der Unternehmenskultur erwerben“, so Neu.

Portrait Prof. Uwe Elsholz Foto: Volker Wiciok
Prof. Uwe Elsholz

Karriere mit Lehre?

Die Veränderungen im Bildungssystem wirken insbesondere in der ME-Branche zurück auf die beruflich-betriebliche Qualifikation. „Die Unternehmen finden kaum noch bereitwillige Jugendliche für die Funktion, die klassisch jemand mit Meister-Titel ausfüllt.“ Die Karriereoptionen verengen sich, je mehr dual Studierende im Betrieb arbeiten. Da die Unternehmen die „begehrten Jugendlichen“ über das duale Studium an sich binden, bleibt es bei dem Angebot. Aus Sicht der Jugendlichen scheint der akademische Abschlusstitel den Unterschied auszumachen. Die „Karriere mit Lehre“ rückt in den Hintergrund.

„Die Projektergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass sich der bisherige Trend zur Ausweitung dualer Studiengänge vermutlich nicht in gleicher Weise fortsetzen wird“, schränkt Elsholz ein. Andererseits seien innovative und zukunftsfähige berufliche Bildungswege gefragt. Um die beruflich-betriebliche Bildung wieder attraktiver zu machen, müssten Unternehmen umdenken: Indem sie etwa mehr Verantwortung für den weiteren beruflichen Entwicklungsweg der Auszubildenden übernehmen oder Zusatzqualifikationen schon während der Ausbildung einbauen. Eine weitere Strategie könnte sein, der derzeit steigenden Zahl an Studienabbrecherinnen und -abbrechern den Weg in die beruflich-betriebliche Bildung zu erleichtern.

Die Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung bleibt jedoch ein frommer Wunsch der Bildungspolitik und nicht zuletzt auch der Bildungsministerin, sofern sich keine attraktiven Karriereaussichten mit beruflichen Bildungswegen verbinden.

Anja Wetter | 01.07.2019