Jahrestagung 2022

FSP digitale_kultur

Panel 1: Deutungsmacht & Digitalität

Veranstalter*innen: Prof. Dr. Thomas Bedorf, Sarah Kissler, Dr. Thorben Mämecke

Hermeneutiken als Deutungspraktiken sind nie machtfrei gewesen. Schon immer wurde ihnen ein Verfehlen des eigenen Wahrheitsanspruchs nachgewiesen. Unter Bedingungen der Digitalität verschieben sich die Weisen, das Verhältnis von Macht, Deutung und Wirklichkeit zu befragen. Wo sich Bilder, Texte und ihre Produzent*innen in Hinsicht auf Verfügbarkeit, Kommunizierbarkeit und technische Manipulierbarkeit vervielfältigt haben und volatiler geworden sind, werden Deutungsprozesse zunehmend technologisch opak und unreflektiert. Eine Analyse der digitalen Deutungsmacht, die selbst an der Erzeugung von Wirklichkeiten beteiligt ist, soll in diesem Panel erprobt und diskutiert werden.

Digital (anti-)hermeneutics of the self

Dr. Alberto Romele (Universität Tübingen)

It is well known that, in the last part of his thought, Foucault thought no longer about systems of coercion and control (epistemic and technical/technological systems) but about the way in which subjects, through multiple practices, come to subjectify themselves. It is precisely in this context that Foucault speaks of “hermeneutics of the self“. The thesis we want to propose in this presentation is that digital technologies are formidable tools of „habituation of the self“. The term „habituation“ refers to the fact that subjectivations of the self by means of the digital are always „hetero-subjectivations“ rather than „self-subjectivations“. In this way, the force of interpretation is shifted from the subject to the external powers that determine it. More than interpreting, the digital subject is constantly being interpreted. Indeed, to be precise, the digital subject is neither subject nor object of interpretation: the force of interpretation is in fact made inoperative. In a certain sense, the digital hermeneutics of the self is then an anti-hermeneutics of the self, because the subject is deprived of any possibility of expressing its own selfhood. Indeed, repeated contact with the digital leads subjects to flatten out on their sameness. In the presentation, we will propose a comparison between the way in which, for Foucault, the hermeneutics of the self passes through a series of bodily exercises, on the one hand, and the way in which today we witness a diffusion of wearable technologies for wellbeing. We will rely on the analysis of an empirical project in which we are currently involved as ethical and philosophical consultants.

Dr. Alberto Romele ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen und derzeit am LOUISA-Projekt beteiligt. Bevor er zum IZEW kam, hat er an verschiedenen europäischen Instituten und Universitäten gearbeitet: dem Fonds Ricoeur in Paris, der Universität Porto, der Universität Burgund und der Katholischen Universität Lille. Seine Forschungsschwerpunkte sind Digitale Hermeneutik, Technologische Vorstellungen und der Ethik und Epistemologie der KI.

Das Spiel der Herme­neu­tiken von Stimme und Schrift in und mit dem digitalen Text. Über­legun­gen zu Stimm­synthesen und sinnlichen Wahr­nehmungs­kon­figu­rati­onen.

Vertr. Prof. Dr. phil. Miklas Schulz (Universität Duisburg/Essen)

Als blind arbeitender Wissenschaftler bin ich es seit vielen Jahren gewohnt meine Texte mit einer Sprachausgabe abzufassen, ebenso wie mir ein auditives Lesen mithilfe besagter Screenreadersoftware vertraut geworden ist. Im Sinne der Disability Studies können Behinderungserfahrungen (wie die der Blindheit) nun als Befremdung von Normalitätsannahmen in der Mehrheitsgesellschaft und damit als erkenntnisgenerierendes Moment eingesetzt werden. Neuerlich und machtkritisch befragt werden kann so der alte Diskurs zu den Medien Stimme und Schrift. Vor dem existierenden soziokulturellen Hintergrund lässt sich fragen, warum es alternative, den Hörsinn einbeziehende Aneignungsweisen, so schwer haben als gleichwertige (hermeneutische) Lektürepraktiken zu gelten. Meine These ist, dass in der Medienkritik und ihren Problematisierungen unterschiedlicher Hermeneutiken, die Frage nach der Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit unserer Fernsinne mitschwingt. 

Vertr. Prof. Dr. phil. Miklas Schulz ist Soziologe und Medien-/Kommunikationswissenschaftler. Er vertritt seit April 2019 die Professur Inklusive Pädagogik und Diversität am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und ist Postdoc am Institut für Sonderpädagogik, Leibniz Universität Hannover (beurlaubt) bei der Abteilung Allgemeine Behindertenpädagogik / Soziologie der Behinderung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Critical Blindness/Disability Studies, Diversitäts- und Intersektionalitätsforschung, Körper-/Kultur-/Mediensoziologie, Qualitative Methoden, Dispositivanalyse und (Auto-)Ethnografie.

Die Gram­mati­sierung sozialer Praktiken. Hand­lungs­gram­mati­ken als hermeneutisches Apriori der Produktion und Verarbeitung von „Verhaltensdaten“

Dipl.-Ing. Mag. Dr Andreas Beinsteiner (LFU Innsbruck/Universität Wien)

Voraussetzung jeglicher sinnhaften Interaktion zwischen Menschen und Computersystemen ist es, menschliches Verhalten zunächst in eine Form zu bringen, die für den Computer lesbar ist: Handeln muss auf eine Sequenz diskret abgegrenzter und eindeutig bestimmter Elemente heruntergebrochen bzw. grammatisiert (B. Stiegler) werden. Dies geschieht im Softwaredesign über Handlungsgrammatiken (grammars of action, Ph. Agre), welche die Brücke schlagen zwischen den selbst formalsprachlich verfassten Operationssequenzen des Computers und der diffusen Welt menschlicher Praxis, indem letzterer nun ebenfalls eine formalsprachliche Struktur auferlegt wird. Eine Handlungsgrammatik artikuliert hierbei auf zweierlei Weise Deutungsmacht: Einerseits beruht sie selbst auf einer antizipativen/präskriptiven Deutung der durch die Software zu ermöglichenden Praktiken; andererseits schafft sie die Voraussetzung jener automatisierten Deutung von Interaktionssequenzen, in der die algorithmische Produktion von Verhaltensdaten besteht.

Andreas Beinsteiner ist Philosoph und Ingenieur und derzeit als Lehrbeauftragter an der Universität Wien am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft sowie an der LFU Innsbruck tätig. Dort war er auch Teil eines Forschungsprojekts zu „Medienanalysen im Werk Martin Heideggers“. Seine Forschungschwerpunkte liegen in der Philosophie der Medien und Technologie, (Post-)Phänomenologie und (Post-)Hermeneutik, Sprache nach dem affective/material turn, und der Sozialen und Politischen Theorie/Philosophie.