Jahrestagung 2022

FSP digitale_kultur

Panel 3: Dimensionen historischen Verstehens im digitalen Raum

Veranstalter*innen: Dr. Almut Leh, Dr. Dennis Möbus

Historisches Verstehen ist nicht nur das Ziel geschichts­wissenschaft­licher Hermeneutik, es ist vielmehr in die DNA der Hermeneutik eingeschrieben: Welt und Mensch sind nur in ihrem „Gewordensein“ (Johann Gustav Droysen) zu verstehen. Nicht selten teilt sich der hermeneutisch verfahrende Fächerkanon Quellenkorpora oder Forschungsdaten, die mit je eigenen Perspektiven, Fragestellungen und methodischen Ausprägungen untersucht werden. Durch die Digitalisierung ist das ‚hermeneutische Handwerk‘ bedeutenden Veränderungen ausgesetzt, es gilt Heuristik, Quellenkritik und Methodik grundlegend zu überdenken.

Die epistemologische Prämisse und die Modi der Algorithmenkritik

Melanie Althage (HU Berlin), Dr. Mark Hall (Open University, UK), Melanie Seltmann (Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt)

Aus Perspektive der Digital Humanities lassen sich unterschiedliche Modi der Algorithmenkritik lokalisieren, die sich auf drei Säulen verteilen: Forschungsdesign, Funktionalität und gesellschaftlich-lebensweltliche Auswirkungen. Die Säulen können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden und sind gleichermaßen für eine erfolgreiche Algorithmenkritik relevant. Während im Forschungsdesign methodologische Fragen, etwa nach Vorannahmen, geklärt werden müssen – sowohl auf Seiten des Forschungsgegenstands als auch auf der Seite der Algorithmen – geht es bei der funktionsseitigen Säule um konkrete Anwendungskritik: Ist eine formale Semantik zur Analyse der Logik von Algorithmen für Nicht-Informatiker:innen praktikabel und sinnvoll? Oder sind komparative Gegenüberstellungen von Ergebnissen sowie experimentelle Interventionen, wie dem bewussten Provozieren nicht vom Algorithmus vorgesehener oder extremer Outputs, zielführend? Die dritte Säule begegnet den gesellschaftlich-lebensweltlichen Auswirkungen von Algorithmen, beispielsweise deren Suggestionskraft, deren Vermögen, Phänomene sowohl sichtbar zu machen als auch zu verschleiern und, nicht zuletzt, den Wechselwirkungen zwischen Algorithmen und Forschenden. Alle drei Säulen ruhen auf einer epistemologischen Prämisse: Sind Fragestellung und Algorithmus inkompatibel, ist die Kritik arbiträr. Ausgewählte Modi der Algorithmenkritik werden entlang von Praxisbeispielen veranschaulicht.

Melanie Althage studierte Geschichte und Philosophie und ist Mitarbeiterin an der Professur für Digital History an der HU Berlin sowie im Volkswagen-Projekt „Die Performanz der Wappen”. Sie promoviert zur methodenkritischen Integration digitaler Textanalyseverfahren in den Werkzeugkasten der Historiker:innen.

Mark Hall kommt aus dem Bereich der Computerlinguistik. Der Zufall hat ihn danach in die digitale Kulturgeschichte und die DH-Welt geführt. Seit 2020 ist er Lecturer an der Open University, UK und forscht dort zu den Themen Digital Cultural Heritage, DH Methodology, und Equity in DH.

Melanie Seltmann studierte Linguistik und ist Mitarbeiterin an der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt im Zentrum für Digitale Editionen. Dort unterstützt sie das Citizen-Science-Projekt „Gruß & Kuss”. Sie promoviert zu Standardisierungsmöglichkeiten linguistischer Annotationen.

Treffer. Zur Transformation der Stellenhermeneutik

Prof. Dr. Michael Niehaus (FU Hagen)

Mit dem inzwischen wenig gebräuchlichen Begriff der Stellenhermeneutik soll daran erinnert werden, dass die Kunst der Auslegung zunächst den Zweck hatte, dunkle Stellen in einem Text zu erhellen. Erst im Nachhinein wurde die einzelne Stelle in den Bezug zum Ganzen (eines Textes, eines Werks) gesetzt und in ihrer Auslegung in einen hermeneutischen Zirkel gezogen (vgl. zum Überblick Stephan Meder: Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 17–28). Was die Disziplinen betrifft, die sich mit Texten beschäftigen, kommt es innerhalb der Praktiken und Verfahren, welche die digitale Kultur zur Verfügung stellt, zu einer Transformation der Stellenhermeneutik, die insbesondere neue Ziele und Fragestellungen begünstigt. Praktisch gesprochen: Man startet in einem digitalisierten Text (oder einem Textkonvolut) eine Suche mithilfe eines Suchbegriffs und bekommt eine bestimmte Anzahl von Treffern. Jeder Treffer bezeichnet eine Stelle, die – irgendwie – verstanden werden muss. Dieses Verstehen, das es stets mit einer Reihe von Treffern zu tun hat, kann nicht mehr auf die Auslegungsweisen der klassischen Hermeneutik beschränkt werden (vgl. etwa den Begriff der Parallelstelle). Die Fragestellungen, deren Bearbeitung mithilfe solcher Treffer erfolgen soll, dürfen zu ihrer Beantwortung nicht mehr das Verständnis eines ‚Ganzen‘ erfordern, sollen aber andererseits gleichwohl einer methodischen Kontrolle unterliegen. Der Vortrag möchte einige Implikationen dieses Befundes skizzieren. 

Michael Niehaus ist seit 2014 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienästhetik an der FernUniversität in Hagen. Er forscht unter anderem zum Begriff des Formats, zur intermedialen Narratologie, zum Film und zu verschiedenen medienkulturwissenschaftlichen Themenfeldern. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „z.B. Zeitschrift zum Beispiel“

Digitale Erschließung. Sammlungsübergreifendes Topic Modeling in der Oral History

Philipp Bayerschmidt (Oral.History-Digital)

Die zunehmende Digitalisierung in der Oral History eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten, diese vielschichtigen Quellen einer Sekundäranalyse zu unterziehen. Das Zusammenwachsen verschiedenster Sammlungen, etwa durch das Online-Portal Oral-History.Digital, ermöglicht das breitangelegte Vergleichen und Erforschen. Je größer aber die zu untersuchenden Bestände werden, desto schwieriger wird es, sich den vielfältigen Themen allein über Metadatenfilter oder Keywordsuche zu nähern. Das Topic Modeling ermöglicht in einem distant reading, erste Informationen über die Quellen und ihre enthaltenen Themen zu erhalten und diese für die Erschließung der Interviews zu nutzen. Hierbei werden Muster von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Sammlungen sichtbar, die mit dem bloßen Auge kaum wahrnehmbar sind. Ein Use Case in Form einer Suche nach Interviews mit Personen, die nach 1945 dauerhaft nach Deutschland migriert sind, soll zeigen, wie eine solche sammlungsübergreifende Analyse umgesetzt werden kann und wie qualitative Evaluation und visuelle Tools dabei unterstützen – oder in die Irre leiten können.

Philipp Bayerschmidt, M. A. ist Historiker und verglich in seiner Masterarbeit die Aussagen ehemaliger Auschwitz-Häftlinge im 1. Frankfurter Auschwitzprozesses mit ihren lebensgeschichtlichen Interviews vierzig Jahre später. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG geförderten Projekt Oral.History-Digital.