Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Europa zwischen Krieg und Integration
Wege der Kriegsvermeidung im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts
13. Juli 2016, 18 Uhr
Prof. Dr. Norbert Franz
Flyer zur Veranstaltung (PDF 220 KB)
Kriegsvermeidung und Friedenserhaltung in Europa – einige Lehren aus der Geschichte in den „Gesprächen am Tor“
Nach einer längeren Phase relativer internationaler Stabilität im 19. Jahrhundert verstrickte sich der europäische Kontinent bekanntlich im 20. Jahrhundert in mehrere „große“ und „kalte“ Kriege globalen Zuschnitts. „Die Frage nach den Ursachen dieser militärischen Auseinandersetzungen und von Kriegen überhaupt ist noch immer offen“, konstatierte Prof. Dr. Norbert Franz zu Beginn seines Vortrags im Regionalzentrum Karlsruhe. Die derzeit durch die internationale Entwicklungen und deutsche Militäreinsätze in Afghanistan, der Ukraine, Syrien und Mali genährte Gefahr einer Wiederkehr solcher Konflikte zeigt die anhaltende Brisanz des Themas auch im beginnenden 21. Jahrhundert. Dies nahm der Referent, der an den Universitäten Luxemburg und Trier Neuere und Neueste Geschichte lehrt, zum Anlass für eine sorgfältig herausgearbeitete Analyse der europäischen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte.
Der Vortrag fokussierte auf die hauptsächlichen Kausalmuster militärischer Konflikte und die Bedingungen für deren Vermeidung und eine dauerhafte Friedenssicherung. Dabei wurde deutlich, dass sich Ursachen und Verlauf der beiden Weltkriege nur im Kontext der historisch gewachsenen Legitimation für politische Herrschaft erklären lassen, mithin die nationale Staatlichkeit und die wechselseitige konflikthafte Begrenzung ihrer Reichweite in den internationalen Beziehungen eine wesentliche Komponente im hier verhandelten Kausal- und Bedingungsgefüge bilden. Unter anderem eine imperial gesteigerte Machtkonkurrenz und einen zum Rassismus gesteigerten, zum Teil von der sozialen Frage genährten Nationalismus identifizierte der Referent als Hauptursachen für die beiden Weltkriege. Auf der anderen Seite machte er deutlich, wie das der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts vorausgehende, durch den Wiener Kongress (1815) installierte europäische Mächtesystem immerhin für ein ganzes Jahrhundert zur Vermeidung größerer Konflikte auf dem Kontinent beitrug. Ein solches Modell zur Bilanzierung konkurrierender Mächte schien erneut im europäischen Integrationsprozess der zweiten Nachkriegszeit auf, der im Zuge der Blockbildung des Kalten Krieges und der anschließenden Öffnung gegenüber einer multipolaren Welt den Ausbruch umfassender militärischer Konflikte vermeiden half.
„Die europäische Geschichte hat gezeigt, dass Friedenssicherung durch Kriegsvermeidung möglich ist“, bilanzierte der Referent seine wissenschaftliche Analyse, aus der er aber auch den politischen Schluss zog, dass die bisherige Machtpolitik der Europäischen Union, die Partikularinteressen ihrer Mitgliedsregierungen und der fehlende Partizipationswille ihrer Bürger dieses Ziel gefährden und daher ein Umdenken einsetzen müsse. Im Anschluss entwickelte sich eine angeregte Debatte, die vor dem Hintergrund der kurz zuvor gefallenen „Brexit“-Entscheidung um die aktuelle Krise der Europäischen Union kreiste und generell die Bedeutung sozialer Verwerfungen für die Entwicklung militärischer Aggression betonte.
Norbert Franz, geb. 1954, lehrt seit 2006 als Privatdozent, seit 2011 als außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an den Universitäten Trier und Luxemburg. Schwerpunkte seiner Forschungen sind europäische Verfassungs-, Agrar- und Konsumgeschichte, Sozial-, Wirtschafts- und Finanzgeschichte städtischer und ländlicher Gemeinden sowie die Geschichte politischer Partizipation und Nationsbildung.
Zusammenfassender Bericht der Veranstaltungen bis zur Sommerpause 2016, in: FernUni Perspektive 57 (Herbst 2016), S. 19.