Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
70 Jahre Residenz des Rechts in Karlsruhe
15. Juli 2020, 18 Uhr
Dr. Detlev Fischer
Flyer zur Veranstaltung (PDF 988 KB)
Entstehungshintergründe und Rechtsprechung der drei Säulen der hohen Bundesjustiz: eine Bilanz in den „Gesprächen am Tor“
Vor 70 Jahren nahm der Status Karlsruhes als Sitz der höchsten Bundesjustiz mit einem Beschluss des Deutschen Bundestags seinen Anfang: Am 26. Juli 1950 erhob das westdeutsche Parlament die Stadt zum Sitz des Bundesgerichtshofs (BGH); neben der dem BGH zugeordneten Bundesanwaltschaft folgte ein Jahr darauf auch das Bundesverfassungsgericht (BVG) nach Karlsruhe. Anlässlich des diesjährigen BGH-Jubiläums befasste sich die Online-Veranstaltung nicht nur mit den Entstehungshintergründen dieser drei Justizorgane. Vielmehr bot Dr. Detlev Fischer eine beeindruckende Gesamtschau zur Einrichtung, Besetzung und Rechtsprechung der drei institutionellen Säulen, auf denen die „Residenz des Rechts“ seither fußt.
Als ehemaliger Richter am BGH und als derzeit langjähriger Vorsitzender des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe machte der Referent die zeithistorischen Hintergründe plausibel, die im aufziehenden Kalten Krieg die Standortfrage trotz mancher Konkurrenz (vor allem Köln) zugunsten Karlsruhes entschieden. Für die Aufbauphase der Justizorgane erinnerte er daran, dass diese nicht nur von Juristen mit NS-Belastung, sondern auch von NS-Verfolgten und einer Persönlichkeit wie Max Güde (1902-1984), „Oberbundesanwalt“ der ersten Stunde, getragen wurde. Von seiner problematischen, ja später durch Gerichtspräsident Günter Hirsch als „verheerend“ bezeichneten Auseinandersetzung mit der NS-Justiz distanzierte sich der BGH in den 1990er Jahren im Kontext der Auseinandersetzung mit der DDR-Justiz. Als Meilensteine der Rechtsprechung hob Detlev Fischer u.a. die Judikatur zum Persönlichkeitsrecht durch den BGH und die richtungsweisenden Entscheidungen zur Gleichberechtigung hervor, für welche die erste Frau am BVG, Erna Scheffler (1893-1993), verantwortlich zeichnete. In der weiteren Rechtsprechung des BVG (Entscheidung für die Gründung des südwestdeutschen Bundeslands, Parteienverbot gegen Sozialistische Reichspartei und KPD u.a.) identifizierte der Referent die bedeutende Plenumsentscheidung von 1952 zum Status des Gerichts - in Anlehnung an die maßgebliche Berichterstattung von Gerhard Leibholz - als entscheidenden Wendepunkt auf dem Weg zum eigentlichen Verfassungsorgan. Für die Bundesanwaltschaft würdigte Fischer neben der noch von Güde vorangetriebenen großen Strafrechtsreform u.a. die im Zeichen des Kalten Krieges mit diversen Geheimdienstaktivitäten befassten Entscheidungen. Im Klima der „bleiernen Zeit“ der 1970er Jahre geriet die in der Stadt ansässige Justiz zum besonderen Ziel des RAF-Terrorismus, was im Deutschen Herbst in der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback (1920-1977) und seiner Begleiter gipfelte. Als die Wiedervereinigung erneut die Standortfrage auf die Agenda setzte, verblieb die höchste Bundesjustiz in Karlsruhe – die „Residenz des Rechts“ galt inzwischen als gesetzt, zumal sie sich gegenüber Leipzig kompromissbereit zeigte, mit dem sie sich neben zwei BGH-Senaten bald auch das künftige „Forum Recht“ teilen wird.
Im anschließenden Austausch wurde die Frage der BGH-Rechtsprechung zur DDR-Justiz erörtert. Auch bildete der doppelte Auftrag des BGH zur Wahrung der Rechtseinheit und zur Fortentwicklung des bestehenden Rechts den Anlass, seine Rechtssetzung gegenüber der deutschen und europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit zu bewerten: Demnach handelt es sich um eine komplementäre Beziehung, aber kein Spannungsverhältnis, wie es dagegen nächstes Jahr anlässlich des BVG-Jubiläums in Hinblick auf das EU-Recht an diesem Ort zu thematisieren sein wird.
Detlev Fischer, geb. 1950 in Göttingen, ist in Karlsruhe aufgewachsen und war dort von 1995 bis 2002 als Richter am Oberlandesgericht tätig. Im Anschluss war er Vorsitzender einer Kammer für Handelssachen am Landgericht Karlsruhe. Von 2005 bis 2015 war Detlev Fischer Richter am Bundesgerichtshof. Seit 2005 ist er Vorsitzender des Karlsruher Vereins Rechtshistorisches Museum e. V. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu zivilrechtlichen und rechtshistorischen Themen vorgelegt, u. a.: Karlsruher Juristenportraits aus der Vorzeit der Residenz des Rechts (2004) und Rechtshistorische Rundgänge durch Karlsruhe – Residenz des Rechts (2005, 3. Aufl. 2017).
Publikationshinweise:
- Detlev Fischer, Wie Karlsruhe zum Sitz der höchsten deutschen Gerichte wurde, in: ka-news.de 25.05.2019.
- Detlev Fischer, Rechtshistorische Rundgänge durch Karlsruhe. Residenz des Rechts, 3. Aufl. Karlsruhe 2017 (= Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, 10).
- Detlev Fischer, Eduard Dietz (1866-1940). Vater der Badischen Landesverfassung von 1919. Ein Karlsruher Juristenleben, 2. Aufl. Karlsruhe 2012 (= Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, 16).
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