Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Gelber Drache und Schwarzer Adler –
China, Deutschland und 500 Jahre Ost-West-Beziehung
19. Oktober 2022, 18 Uhr
Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer
Flyer zur Veranstaltung (PDF 1 MB)
Die deutsch-chinesischen Beziehungen – aktuelle Herausforderungen vor dem Hintergrund historischer Gemeinsamkeiten
„Denn das Ein-Deutschland-Prinzip und das Ein-China-Prinzip waren damals schon ein Thema“, konstatierte Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (China Centrum an der Universität Tübingen) zu Beginn seines Vortrags, womit er auf die verblüffende Parallelität Deutschlands und Chinas bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen am 11. Oktober 1972 verwies: nämlich der unterschiedlichen Blockzugehörigkeit ihrer geteilten Territorien (BRD – DDR, VR China – Taiwan) im Kalten Krieg. Zum 50. Jahrestag jener diplomatischen Öffnung der Volksrepublik China gegenüber der westdeutschen Bundesrepublik machte der anerkannte Sinologe die Komplexität und Dynamik der aktuellen deutsch-chinesischen Beziehungen anhand ihrer historischen Hintergründe verständlich: „Wir wollen unseren Blick weiten und nicht verengen!“
Mit seinem Rückblick auf die letzten Jahrhunderte bot Schmidt-Glintzer zunächst ein Kaleidoskop der deutsch-chinesischen bzw. europäisch-asiatischen Beziehungsgeschichte, das von ersten Berührungen im Jahr 1304 und einer begriffsgeschichtlichen Reflexion über „Asien“ als Abgrenzung gegenüber „Europa“ ausging, um dann die vor allem von den Jesuiten und der europäischen Expansion vorangetriebene Begegnung beider Kulturräume in der Frühen Neuzeit zu thematisieren, die dann im Übergang zum 19. Jahrhundert trotz allen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Austausches in der kolonialen Unterwerfung Chinas auch durch Deutschland gipfelte. Während des chinesischen Bürgerkriegs gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts regen Austausch zwischen beiden Seiten, indem sich führende Politiker der künftigen Volksrepublik (Zhou Enlai, Zhu De) in der Zwischenkriegszeit in Deutschland zu Studienzwecken aufhielten, was die chinesische Liga der Menschenrechte – in einer Art umgekehrten Menschenrechtsdialog – nicht davon abhielt, schon 1933 offiziellen Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen im neuen Hitler-Deutschlands einzulegen. Während im Zweiten Weltkrieg der japanische Angriff auf Pearl Harbor (1941) den Eintrittsmoment der USA in den pazifischen Raum markierte, entwickelten sich im Nachkriegsdeutschland zunächst lebhafte Wirtschaftsbeziehungen mit der Volksrepublik, die dann im Windschatten der US-amerikanischen Öffnung gegenüber China (Henry Kissingers „Pingpong-Diplomatie“) durch eine stärkere politisch-diplomatische Zusammenarbeit ab 1972 flankiert wurden. Im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert stieg China dann bekanntlich durch eine beispiellose Wirtschaftsentwicklung zur „Werkbank der Welt“ auf, worauf es infolge der damit verbundenen globalen Rolle zunehmend als neue „Gelbe Gefahr“ betrachtet wird.
Vor dem Hintergrund dieser mit überraschenden Details aufwartenden Retrospektive der deutsch-chinesischen Beziehungen stellte sich Helwig Schmidt-Glintzer schließlich der komplexen Frage, wie wir uns in einer sich verändernden Welt auf die neuen geopolitischen Konstellationen konstruktiv und kreativ einstellen können, wobei es zu bedenken gilt, dass wir neben unserer gemeinsamen Geschichte mit China „auch […] eine gemeinsame Zukunft auf diesem Erdball irgendwie werden gestalten müssen“. Der westlichen Agenda der politischen Grund- und Menschenrechte stellte der Referent den Anspruch des globalen Südens auf wirtschaftlichen Wohlstand und grundlegende ökologische Lebensbedingungen gegenüber, ein Anspruch, der gerade vom Westen über Jahrhunderte eklatant ignoriert und beschnitten wurde. In der Beurteilung der aktuellen geopolitischen Krisenlagen plädierte Schmidt-Glintzer somit im Bewusstsein der „gemeinsamen Vergangenheiten“ für eine Abkehr von der Stigmatisierung Chinas als „Gelbe Gefahr“ und für eine Absage an die „systemische Rivalitätsrhetorik“ zugunsten einer Neukonzeption des Verhältnisses nicht nur zwischen Deutschland und China, sondern zwischen Europa und Asien – einer Neukonzeption, die sich den Herausforderungen einer Welt im Wandel stellt und gemeinsame Lösungen für den Klimawandel und die Probleme des globalen Südens anstrebt.
Die Diskussion mit dem online zugeschalteten und in Präsenz versammelten Publikum verlief durchaus kontrovers. Ungeachtet der vom Referenten ins Feld geführten friedlichen Ansätze chinesischer Außenpolitik verwiesen die Wortmeldungen auf den expansiven und autoritären Charakter der Volksrepublik seit dem Machtantritt Xi Jinpings, wie er etwa in der Verfolgung der Uiguren in Xinjiang, der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong und der aktuellen Bedrohung Taiwans greifbar zum Ausdruck kommt. Auch die im Vortrag aus der chinesischen Presse zitierte offene Kampfansage gegen die westliche Gesellschaft wirkte eher als Bedrohung, da sie über den bisher nur auf China bezogenen Kulturrelativismus noch hinauszuweisen scheint: Nicht mehr nur dem chinesischen Kulturraum wird demnach der Zugang zum Konzept der universalen Menschenrechte abgesprochen, sondern das daraus im Westen hervorgegangene Gesellschaftsmodell soll gleich mit bekämpft und möglichst beendet werden. Der Referent wollte diese „starke Ansage“ als Gelegenheit betrachtet wissen, „um miteinander ins Gespräch zu kommen“, was die im Publikum geäußerte Skepsis gegenüber dem geforderten neuen Umgang mit China nicht ausräumen konnte – auch wenn die Veranstaltung insgesamt das Verständnis für die historische und aktuelle Komplexität der deutsch-chinesischen Beziehungen zweifellos enorm vertieft hat.
Helwig Schmidt-Glintzer, Prof. Dr., geb. 1948, ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen, war seit 1993 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und ist seit 2016 Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrums Tübingen. Zuletzt erschien von ihm in der Reihe C.H.Beck Wissen vollständig neu bearbeitet „Das neue China“ (2021).
Weiterführende Literaturhinweise:
- Helwig Schmidt-Glintzer, Geschichte der chinesischen Literatur, 2. Aufl. München 1999.
- Helwig Schmidt-Glintzer, Chinas leere Mitte. Die Identität Chinas und die globale Moderne. Essay, Berlin 2018.
- Helwig Schmidt-Glintzer, Das alte China. Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, 6. Aufl. München 2018.
- Helwig Schmidt-Glintzer, Das neue China: vom Untergang des Kaiserreichs bis zur Gegenwart, 8. Aufl. München 2021.
Zur Aufzeichnung des Vortrags (.mp4-Datei)
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