Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Ludwig Marum und Ludwig Haas –
Politiker jüdischer Herkunft und Vorkämpfer der Demokratie im deutschen Südwesten
10. April 2024, 18 Uhr
Dr. Monika Pohl
Flyer zur Veranstaltung (PDF 143 KB)
Aufbau und Zusammenbruch der ersten badischen bzw. deutschen Demokratie anhand der Biografie zweier jüdischer Politiker – und Anregungen für den Umgang mit der heutigen Demokratiekrise
Mit Ludwig Haas (1875-1930) und Ludwig Marum (1882-1934) verfügt die Erinnerungskultur im deutschen Südwesten über zwei historische Persönlichkeiten jüdischer Herkunft, die sich in herausragender Weise um die badische und deutsche Demokratiegeschichte verdient gemacht haben. Anlässlich des 90. Todestags Ludwig Marums im badischen Konzentrationslager Kislau (bei Bruchsal) hatte die Karlsruher Veranstaltungsreihe „Gespräche am Tor“ in Kooperation mit dem Förderverein Forum Recht e.V., Karlsruhe-Leipzig und dem Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften an der FernUniversität in Hagen zu einer näheren Betrachtung des politischen Lebenswegs beider Politiker eingeladen.
Mit ihrem Vortrag legte Dr. Monika Pohl (Zweite Vorsitzende des Forums Ludwig Marum e.V., Karlsruhe) das überraschende Erkenntnispotential einer biographiegeschichtlichen Gegenüberstellung von Ludwig Haas und Ludwig Marum frei. Die Unterschiede in der gesellschaftlichen und politischen Milieubindung – Haas war bürgerlicher Herkunft und im Liberalismus engagiert, Marum zeigte sich dem proletarischen Milieu und der Sozialdemokratie verbunden – mögen bisher eine solche Zusammenschau verhindert haben. In einer detaillierten und kenntnisreichen Rekonstruktion ihrer politischen Lebenswege arbeitete die Referentin jedoch grundlegende Gemeinsamkeiten heraus: Die als Rechtsanwälte in Karlsruhe gestarteten Politiker Haas und Marum vereinte ein säkular abgeklärter Umgang mit ihren jüdischen Wurzeln und eine kontroverse ideologische Positionierung in ihren Parteien – was sie in der parteiübergreifenden Retrospektive fast zu politischen Kampfgefährten macht. In der Tat profilierte sich Haas als Neubegründer eines modernen, sozialen Liberalismus, der sich offen gegenüber der sozialdemokratischen Programmatik zeigte, die wiederum Marum im Einvernehmen mit dem reformistischen Parteiflügel um Wilhelm Kolb und Ludwig Frank ohne sozialrevolutionären Impetus formuliert sehen wollte. Das Ringen beider Protagonisten um gesellschaftlichen und politischen Ausgleich fand seinen Höhepunkt in der badischen Revolution von 1918 und anschließend in der dort langwährenden Weimarer Koalition, deren Erfolgsgeheimnis Monika Pohl mit dem im Südwesten frühzeitig hergestellten „Klassenkompromiss“ identifizierte. Letzterer zerbrach unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise 1930 und des anschließenden Aufstiegs des Nationalsozialismus, dessen Schergen Ludwig Marum als einen maßgeblichen Träger der ersten deutschen Demokratie frühzeitig ermordeten. Als ausgewiesene Marum-Forscherin beendete die Referentin ihre Ausführungen mit der historisch begründeten Warnung vor der heutigen Gefährdung der Demokratie, der Politik und Zivilgesellschaft entschieden entgegentreten müssen.
Der anschließende Austausch mit dem in Präsenz auf dem Campus Karlsruhe und online zugeschalteten Publikum thematisierte etwa die Frage nach der unterschiedlichen gesellschaftlichen Verankerung beider Protagonisten, da Ludwig Marum zwischen proletarischem und bürgerlichem Milieu zu changieren vermochte. Auch ihr Umgang mit der jüdischen Gemeinschaft und namentlich der zionistischen Strömung wurde angesprochen. Weiterhin verwies ein griechischer Teilnehmer auf die transnationalen Bezüge der Weimarer Verfassungen, die wenig später bei der griechischen Verfassungsgebung von 1927 rezipiert wurden. Im Zentrum der Diskussion stand das Engagement Haas‘ und Marums gegen den aufkommenden Nationalsozialismus: In diesem Zusammenhang verwies die Feststellung, dass bisher für Karlsruhe keine jüdischen Widerstandskämpfer bekannt seien, auf einen Bedarf nach weiterer stadtgeschichtlicher Forschung; auch die Umstände der Ermordung Marums in Kislau wurden erörtert. Die abschließende Fragestellung evoziert im historischen Rückblick die aktuelle rechtsextremistische Bedrohungslage: Warum hat die historisch sprichwörtliche liberale Tradition Badens seine Bewohner und Bewohnerinnen nicht ausreichend gegen den Nationalsozialismus immunisiert? Der politische Lebensweg von Ludwig Haas und Ludwig Marum birgt manchen Fingerzeig, wie dies künftig besser gelingen könnte – weitere müssen folgen.
Monika Pohl, Dr., OStRin a. D., geb. 1949, unterrichtete bis 2015 Deutsch, Geschichte und Ethik am Ludwig-Marum-Gymnasium Pfinztal. Sie beschäftigte sich in mehreren Publikationen mit der politischen Biographie Ludwig Marums, wirkte mit als Kuratorin der Ausstellung „Ein Leben für Recht und Republik. Ludwig Marum 1882-1934“ und ist Zweite Vorsitzende des Forums Ludwig Marum e.V., Karlsruhe.
Weiterführende Ressourcen:
- Monika Pohl, Ludwig Marum. Ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft und sein Aufstieg in der badischen Arbeiterbewegung 1882–1919 (= Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte, 8), Karlsruhe 2003 (zugl.: Diss. Univ. Heidelberg 2001/02).
- Monika Pohl, Ludwig Marum. Gegner des Nationalsozialismus. Das Verfolgungsschicksal eines Sozialdemokraten jüdischer Herkunft (= Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte, 13), Karlsruhe 2013.
- Monika Pohl, Ludwig Marum. Ein Sozialdemokrat jüdischer Herkunft und sein Weg in der Weimarer Republik (= Forschungen und Quellen zur Stadtgeschichte, 22), Karlsruhe 2024.
- Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Hg.), Ein Leben für Recht und Republik. Ludwig Marum 1882-1934. Begleitband zur Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, des Landesarchivs Baden-Württemberg und des Forums Ludwig Marum, Berlin 2018.
- Ulrich Wiedmann, Der Kislau-Prozess. Ludwig Marum und seine Henker. Ein szenischer Bericht, Neckarsteinach 2007.
- Ewald Grothe/Aubrey Pomerance/Andreas Schulz (Hg.), Ludwig Haas. Ein deutscher Jude und Kämpfer für die Demokratie, Düsseldorf 2017.
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