Call for Paper: "Das soziale Band Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs"

Call for Papers: Das soziale Band Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs

Das soziale Band, Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs

FernUniversität Hagen, 23.-25.03.2015, Deadline: 30.11.2014

Der Begriff des ›sozialen Bandes‹ dient in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen dazu, eine grundlegende Form der Verbundenheit zwischen Subjekten deutlich zu machen. Dabei ist die Existenz einer solchen sozialen Verbundenheit keine Selbst­verständlichkeit, sondern als Resultat komplexer historischer Vergemeinschaftungs­pro­zesse grundsätzlich erklärungsbedürftig. Nun hat der Begriff zwar sowohl in der Sozial­philosophie als auch in der politischen Philosophie und der Soziologie immer wieder Ver­wendung gefunden, dabei ist er jedoch kaum zum expliziten Gegenstand der Reflexion geworden. An eben dieser Stelle will die geplante Tagung einsetzen und sich der Geschichte und Gegenwart dieses sozialtheoretischen Grundbegriffs zuwenden. Vier Zugangsweisen lassen sich dabei unterscheiden:

1 – Webarten

Die Frage, was Subjekte aneinander bindet, wird zumeist auf zwei verschiedene Arten beantwortet: Während die einen davon ausgehen, dass sich Subjekte aufgrund einer anthropologischen Neigung mit anderen zu einer substantiell verfassten Gemeinschaft zusammenfinden, gehen die anderen davon aus, dass sich die Individuen aus einem wohlüberlegten Interesse zu einer kontraktualistisch verfassten Gesellschaft zusammen­schließen. Beide Konzeptionen sind seit längerem in die Kritik geraten. Während erstere nämlich Gefahr läuft, den Spannungen und dem Antagonismus keinen adäquaten Stellenwert einräumen zu können, vermag letzterer nicht ausreichend zu erklären, woher eine kontraktualistisch verfasste Gesellschaft ihre Integrationskraft nehmen soll. Der Begriff des sozialen Bandes ist so auf der einen Seite entweder zu stark oder auf der anderen Seite zu schwach gefasst. Ausgehend von diesem Dilemma hat sich im 20. Jahrhundert ein Ansatz etabliert, welcher die Stiftung des sozialen Bandes als einen performativen Vollzug begreift: soziale Verbundenheit wird hier als Resultat von sozialen Praktiken und nicht als Resultat einer naturwüchsigen Disposition oder als Ergebnis eines einmaligen Stiftungsaktes verstanden. Folgt man dieser Idee, dann geht das soziale Band der Gemeinschaft nicht voraus, sondern wird vielmehr durch fortwährende Pro­zesse der Vergemeinschaftung gestiftet.

2 – Zerreißproben

Wird das soziale Band allererst durch soziale Praktiken geknüpft, dann kann es durch soziale Praktiken auch wieder gelöst werden. Und in der Tat sind Krisendiagnosen immer schon Teil der Untersuchung des sozialen Bandes gewesen. Im Mittelpunkt steht dabei die aufkommende kapitalistische Marktwirtschaft, welche die Solidarität zwischen den Einzelnen untergräbt, indem sie sie als Arbeitende in Konkurrenz zueinander setzt. Im Zuge der fast vollständigen Durchökonomisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhun­dert hat diese Krisendiagnose an Dringlichkeit gewonnen: Durch die Forderung nach einer gouvernementalen Durchgestaltung des eigenen Lebens, werden soziale Bezie­hun­gen zunehmend Marktimperativen unterworfen und damit in ihrer Tragfähigkeit be­droht: wer im Wettlauf um soziales Kapital nicht mithalten kann, kommt zwangs­läufig unter die Räder. Der umfassende Einzug ökonomischer Logiken in soziale Prozesse ist eng mit der Auflösung solidarischer Verbundenheit zugunsten der Entstehung von antagonistischen und kompetitiven Haltungen verbunden (ohne dass man schlicht zu einer vorgeblich ›ursprünglichen‹ Bindungskraft zurückkehren könnte). Nicht selten er­zeugen diese Auflösungserscheinungen als Reaktion einen Rückfall in substan­zia­li­sti­sche Gesell­schaftmodelle: Im Rückgriff auf Kategorien wie Klasse, Rasse oder Geschlecht wird ver­sucht, eben jene Verbundenheit mit anderen wiederzufinden, welche die gesell­schaft­liche Öffentlichkeit nicht mehr zu bieten vermag.

3 – Unauflöslichkeit

Den Positionen, welche eine Krise des sozialen Bandes diagnostizieren, stehen jene Positionen gegenüber, die von einer Unauflöslichkeit des sozialen Bandes ausgehen. Dies ist nicht so zu verstehen, dass konkrete Phänomene der sozialen Desintegration bestritten würden, sondern vielmehr in dem Sinn, dass das soziale Band eine solche Elastizität besitzt, dass es auch in Extremsituationen nicht zu reißen vermag. Postfundamentalistische Ansätze gehen daher von einer radikalen Abgründigkeit des Sozialen aus, womit gemeint ist, dass es keinen letzten Grund gibt, auf den unser soziales Zusammenleben rekurrieren kann, um sich selbst zu rechtfertigen. Diese Ungegründetheit von Gesellschaft wird dabei zum Ausgangspunkt für ein neues Verständnis des sozialen Bandes: was uns aneinander bindet, ist in dieser Perspektive nämlich gerade nicht dasjenige, was uns gemeinsam ist, sondern dasjenige, was uns trennt. Nicht die Selbigkeit, sondern die Andersheit des Anderen wird hier als Quelle sozialer Bindungsprozesse verstanden. So wird etwa in Bezug auf den Bereich der Intersubjektivität argumentiert, dass die Verantwortung für den Anderen uns gerade aufgrund von dessen Andersheit unwiederbringlich heimsucht und in Bezug auf den Bereich des Politischen, dass es gerade die radikale Getrenntheit der Singularität ist, welche Pluralität überhaupt erst ermöglicht. Was uns miteinander verbindet, kann aus dieser Perspektive durch soziale Auflösungsprozesse niemals ganz außer Kraft gesetzt werden kann – stets ist die Möglichkeit einer Anknüpfung an das soziale Band vorhanden. Der konflikttheoretische Endpunkt dieser graduell verschiedenen Auffas­sun­gen behauptet schließlich, es sei die Konflikthaftigkeit des Bandes selbst, die seine Stabi­lität garantiere.

4 – Vollzugswirklichkeiten

Mit der Idee der Unauflöslichkeit des sozialen Bandes verbunden ist die Idee, dass Praktiken der Vergemeinschaftung sehr tief in unseren sozialen Alltag eingelassen sind. Zur Ausarbeitung einer Theorie des sozialen Bandes gehört es daher, diese Vergemein­schaf­tungs­praktiken phänomenal zu beschreiben. Einen zentralen Stellenwert nimmt dabei die Figur des Dritten ein. Im Anschluss an sie lassen sich nämlich zwei Vollzugs­weisen der Vergemeinschaftung unterscheiden: Positive Vollzüge basieren auf der ge­mein­samen Hervorbringung eines Dritten – etwa in kooperativen Herstellungs­pro­zes­sen oder in Praktiken des Gabentausches. Negative Vollzüge der Vergemeinschaftung gehen dagegen von der Konsumtion eines Dritten aus – etwa im gemeinsamen Verzehr eines Festmahls, der kollektiven Verschwendung von Gütern in geselliger Runde oder dem sozialen Ausschluss eines Sündenbocks. Neben diesen traditionellen Motiven ist in jüngster Zeit der Beitrag der Vergemeinschaftung durch gemeinsame Güternutzung (»commons«) in der digitalen wie der analogen Welt hervorgehoben worden. Ausge­hend von solchen positiven und negativen Vollzugsweisen wäre es die Aufgabe einer Theorie des sozialen Bandes, einerseits jene Praktiken ausfindig zu machen, denen in unserer Gegenwart ein besonderes Vergemeinschaftungspotential zukommt und diese andererseits aus einer praxistheoretischen Perspektive in ihren materiellen und leiblichen Vollzugswirklichkeiten phänomenal zu beschreiben.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Zugangsweisen zum Begriff des sozialen Bandes verfolgt die Tagung eine vierfache Zielsetzung:

(i) Theoriegeschichtliche Bestandsaufnahme: Wie ist das soziale Band von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren gedacht worden? Inwiefern konkurriert der Begriff des sozialen Bandes dabei mit anderen Begriffen wie etwa demjenigen des Netzes, der Zelle oder des Rhizoms?

(ii) Kritische Gegenwartsdiagnose: Von welchen Auflösungserscheinungen ist das soziale Band in unserer Gegenwart bedroht? Inwiefern bringen Prozesse der Desintegration und der Exklusion soziale Bindekräfte zum Erlahmen?

(iii) Theoretische Rekonzeptionalisierung:Warum reißt das soziale Band selbst dort nicht, wo keine Gemeinsamkeit zwischen den Einzelnen zu bestehen scheint? Wie lassen sich Widerständigkeit, Unhintergehbarkeit und Unauflöslichkeit des sozialen Bandes verstehen?

(iv) Praxistheoretische Beschreibung: Welche Praktiken der Vergemeinschaftung sind für unsere Gegenwart grundlegend? Wie lassen sich diese Vollzüge angemessen in ihrer Materialität und Körperlichkeit beschreiben?

Mit Vorträgen von Ulrich Bröckling, Iris Därmann, Jan Delhey, Marcel Hénaff, Frank Hillebrandt, Rahel Jaeggi, Isabell Lorey, Oliver Marchart, Sofia Näsström, Hartmut Rosa, Frank Ruda, Dirk Quadflieg.

Bitte senden Sie Vorschläge in Form eines ca. 500 Wörter umfassenden Abstracts für einen Vortrag von max. 30. Minuten bis zum 30.11.2014 an steffen.herrmann oder thomas.bedorf.
Über eine Zusage wird innerhalb eines Monats entschieden.

Dennis Clausen | 09.04.2024