Was treibt Menschen auf die Straße?

Prof. Stefan Stürmer hinterfragte in der Coesfelder BürgerUni den Begriff „Wutbürger“

Ist der Wutbürger wirklich ein konservativer, wohlhabender älterer Mensch, der früher staatstragend war und jetzt nur noch an sich und seine Bequemlichkeit denkt, statt das Wohl des Staates im Blick zu haben? Diese These stellte der Journalist Dirk Kurbjuweit in seinem im Oktober 2010 im Spiegel erschienenen Essay „Der Wutbürger“ auf. Der von ihm geprägte Begriff wurde sofort von zahlreichen Medien aufgenommen und sogar zum Wort des Jahres 2010 gewählt. Grund genug für den Psychologen Prof. Dr. Stefan Stürmer, Inhaber des Lehrstuhls für Sozialpsychologie an der FernUniversität in Hagen, diesen Begriff und seine Bedeutung für die Interpretation aktueller Bürgerproteste einmal grundsätzlich zu hinterfragen. Die Ergebnisse seiner Analysen stellte er im Rahmen der Coesfelder BürgerUni gut 50 interessierten Bürgerinnen und Bürgern vor.

Prof. Stürmer kam dabei zu erstaunlichen Ergebnissen. Der sehr bildhafte Begriff „Wutbürger“ und die Charakterisierung der Figur, die laut Kurbjuweit dahinter steckt, scheinen auf den ersten Blick sehr überzeugend, halten aber einer empirischen Untersuchung – wie Stürmer an zahlreichen Beispielen ausführte – nicht stand.

Befragungen unter Protestierenden gegen „Stuttgart 21“ (Umbau des Stuttgarter Bahnhofs) einer Forschergruppe vom Wissenschaftszentrum Berlin ergaben eindeutig, dass die Altersstruktur der Demonstranten sich im Vergleich mit anderen Demonstrationen kaum verändert hat. Gerade einmal 15 Prozent der Befragten waren über 65 Jahre. Ähnliches lies sich auch über die politische Ausrichtung erkennen. Stefan Stürmer zog daher das eindeutige Fazit „Die Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer entsprechen weitgehend dem Profil des kommunal engagierten Bürgers, der sich bereits in anderen Kontexten herauskristallisiert hat: mittleres Lebensalter, höherer Bildungsstand, sozio-ökonomisch abgesichert und eher links-liberal“. Und er führte aus, dass aus psychologischer Sicht Wut als eine primitive, impulsive und sehr irrationale Reaktion kaum dazu ausreicht, unzufriedene Menschen tatsächlich dazu zu bringen, an bestimmten Aktionen teilzunehmen. „Es ist ein rationaler Prozess mit einer intensiven Kosten- und Nutzenrechnung, die ergibt, dass man sich gegen etwas wehrt, keinesfalls blinde Wut“, betonte Stürmer.

Für das Plenum bot Stürmers Vortrag interessante Einblicke in sozialpsychologische Abläufe und den Einfluss von Medien auf die Wahrnehmung bestimmter Prozesse, die in der abschließenden Diskussion noch einmal vertieft wurden. Die anwesenden Studierenden der FernUniversität konnten zudem einen ihrer Professoren einmal persönlich erleben.

Sozialpsychologie | 08.04.2024