Tagung „Fragilität zwischen Ästhetik und Gefährdung“

Die Forschungsgruppe Figurationen von Unsicherheit lädt vom 11. bis 12. Mai 2023 zu einer Tagung zum Thema Fragilität ein. Auf dieser Webseite finden Sie das Tagungsprogramm und alle Hintergrundinfos zur Veranstaltung.

Foto: Daniel-Grizelji/DigitalVision/Getty Images

Gesellschaften verfügen über historisch variable Strukturen, Mechanismen und Kulturtechniken, mit denen sie Unsicherheiten hervorbringen, thematisieren und bearbeiten. Unsicherheit muss dabei nicht immer negativ verstanden werden, sondern kann auch produktiv gewendet werden.

Auf einen Blick

Wann: 11. - 12. Mai 2023

Wo: FernUniversität in Hagen
Universitätsstraße 33, 58097 Hagen
Seminargebäude (R. 1+2)

Veranstaltende: Forschungsgruppe Figurationen von Unsicherheit

Diese Ambivalenz reflektiert auch der Begriff Fragilität, der sowohl postitiv als auch negativ besetzt sein kann. Positiv bezeichnet er eine besondere ästhetische und sinnliche Qualität (eines Kunstwerks, einer Existenzweise, eines kulturellen Zeugnisses). Negativ meint er die Gefährdung oder Zerbrechlichkeit eines Gegenstands (wenn wir zum Beispiel von der Fragilität des Subjekts, der Infrastruktur, der Wirtschaft oder ganzer Staaten sprechen).

Dennoch können Verletzlichkeit, Brüchigkeit und Ausgesetztsein neue Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten hervorbringen. Seine Ambivalenz macht den Begriff Fragilität überaus anschlussfähig für viele Debatten und begründet seine Konjunktur in unsicheren Zeiten. Der Fragilität kann man also durchaus etwas abgewinnen – was genau und auf welche Figurationen von Unsicherheit dies verweist, werden die Teilnehmenden auf der Tagung diskutieren.

Studierende sowie alle Interessierten können sich bei per E-Mail bei Eva Zielasko, M.A. (eva.zielasko​​​​​) anmelden.

Die Tagung: Format und Programm

  • Zeitraum

    Thema

    Referent*innen

    12:30-13:00 Uhr

    Begrüßung

    Prof. Dr. Uwe Vormbusch
    Eryk Noji, M.A.

    13:00-14:30 Uhr

    Biografie

    Dr. Martin Huth und Dr. Julian Möhring: Fragilität und Vulnerabilität
    Dr. Anita Scheuermann: Vom Unheil-Sein und Resilient-Werden. Das biografierte Selbst zwischen Vulnerabilität und Ästhetisierung

    14:30-14:50 Uhr

    Pause

     

    14:50-16:20 Uhr

    Geschichte

    Prof. Dr. Jürgen G. Nagel, Dr. Fabian Fechner und Dr. Dennis Schmidt: Fragilität kolonialer Herrschaft
    Jun.-Prof. Dr. Franziska Jekel-Twittmann: Fragile Konstruktionen. Dorothea Schlegels politisierte Übersetzung des Merlin-Mythos im Kontext ihrer Zeit

    16:20-16:40 Uhr

    Pause

     

    16:40-18:10 Uhr

    Ambivalenz

    Fatih Bahadir Kaya, M.A.: Fragilität als ambiges Verhältniskonzept
    Prof. Dr. Anna G. Piotrowska: Fragility as an asset or a side-effect? The case of the Romani street violinist Stefan Dymiter (1838-2002)

    18:10-18:30 Uhr

    Pause

     

    18:30-20:00 Uhr

    Keynote

    Prof. Dr. Susanne Krasmann

  • Zeitraum

    Thema

    Referent*innen

    09:00-10:30 Uhr

    Figur

    Dr. Marcella Fassio: „Bin ich ein überflüssiger Mensch?“ – Fragile Weiblichkeit und Depression bei Mela Hartwig, Franziska zu Reventlow und Hedwig Dohm
    Dr. Katja Kauer: Fragilität als Gender-Expression

    10:30-10:50 Uhr

    Pause

     

    10:50-12:20 Uhr

    Zerbrechlichkeit

    Prof. Dr. Uwe Steiner: "Wenn nur das Kleinod nicht eben so zerbrechlich wäre...". Zur Geschichte und Aktualität der Fragilitätsdebatten.
    Dr. Claus Heinrich Bill: Adel als antifragile und ultrastabile soziale Identität?

    12:20-13:30 Uhr

    Mittagspause

     

    13:30-15:00 Uhr

    Wissen

    Samuel Epp, M. Th.: Verschwörungsglaube als Antwort auf eine fragile Welt – Ein Blick aus resonanztheoretischer Perspektive
    Eryk Noji, M.A.: Dynamische Stabilisierung fragilen Wissens am Beispiel der Selbstvermessung

    15:00-15:45 Uhr

    Abschlussdiskussion

    Plenum

Zum thematischen Hintergrund

Die Ambivalenz, die in der Fragilität zum Ausdruck kommt, bildet den Ausgangspunkt der Tagung. Fragil kann vieles sein und entsprechend anschlussfähig sind Fragilität und benachbarte Begriffe für Soziologie, Psychologie, Geschichtswissenschaften, Bildungswissenschaften, Literatur- und Medienwissenschaften, Medizin usw. Die Tagung ist daher interdisziplinär angelegt und widmet sich den folgenden Themenfeldern:

  • In den letzten Jahrzehnten ist eine Ausweitung der Fragilitätsdiskurse zu beobachten, die zum einen begriffliche Fragen danach aufwirft, was unter Fragilität verstanden wird und wie dies zu benachbarten Begriffen wie Unsicherheit oder Vulnerabilität im Verhältnis steht. Konzeptionell lässt sich zwischen der Fremdzuschreibung von Fragilität einerseits, der Selbstbeschreibung als fragil andererseits unterscheiden. Als analytische Kategorie verwendet, kategorisiert oder labelt Fragilität Institutionen, Organisationen, Gesellschaften, Staaten oder auch Individuen als zerbrechlich und prekär, mithin als latent bedroht. Diese Kategorisierung hat Konsequenzen: für Staaten etwa hinsichtlich ihrer Rolle im internationalen Ordnungsgefüge, innerstaatlich hinsichtlich prekärer Machtverhältnisse und sozialer Spannungen, oder für Individuen beispielsweise als negative Sozialprognose. Als Selbstbeschreibung erfolgt durch Fragilität eine Positionierung als bedroht, häufig verbunden mit der Einforderung von Schutzmaßnahmen. Zum anderen kann diese Selbstbeschreibung in Diskursen um gegenwärtige Selbstverhältnisse den Charakter einer Aufforderung oder gar Drohung gegenüber einem konstruierten Außen annehmen, wie es teilweise bei Debatten um ‘microaggressions‘ der Fall ist. Zu fragen wäre, durch welche sozialen und kulturellen Dynamiken solche Drohungs- und Bedrohungsvorgänge ausgelöst werden und welche gesellschaftlichen Folgen sie haben.

  • Schon in den 1980er-Jahren des letzten Jahrtausends hat Ulrich Beck mit der reflexiven Modernisierung eine Konstellation beschrieben, in der unintendierte Nebenfolgen als „Destruktivkräfte“ (Beck 1986) auf die Gesellschaft zurückwirken und so die selbsterzeugte Fragilität sozialer Ordnung vor Augen führen. In der heutigen Zeit haben Wachstum, Innovationsverdichtung und Beschleunigung nach Hartmut Rosa (2005) zu einer situativen Politik geführt, die große Gestaltungsentwürfe durch provisorische Lösungen und kurzfristige Operationen ersetzt. Andreas Reckwitz (2017) bemerkt mit dem Aufziehen neuartiger, auf Singularität ausgerichteter Aufmerksamkeits- und Valorisierungsmärkte eine Krise des Politischen. Und Armin Nassehi (2021) zufolge ist die Gesellschaft insgesamt mit sich selbst überfordert. Gesellschaftliche Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten scheinen an den eigenen Strukturen zu scheitern. Die Moderne, so kann man folgern, ist in der Dauerkrise – und die späte Moderne erst recht.

    Diesen fast völlig auf die europäische (Spät-)Moderne ausgerichteten Globalanalysen sollen auf unserer Tagung Untersuchungen konkreter Erscheinungsformen von Fragilität in ihren zeitlichen und räumlichen Spezifitäten zur Seite gestellt werden. Zugleich ist danach zu fragen, ob und inwiefern verschiedene gesellschaftliche Bereiche gleichermaßen von Fragilisierung betroffen waren/sind und welche Auswirkungen dies wiederum auf gesamtgesellschaftliche Unsicherheitswahrnehmungen hat.

  • Die Diagnose fragiler Gesellschaften findet ihre Entsprechung in augenscheinlich zunehmend fragilen Selbstverhältnissen: „hier die Risikogesellschaft, dort die Risikobiografie“ (Stöhr et al. 2019: 169). Mit dem Individualismus haben sich sehr weiträumig (Selbst-)Praktiken herausgebildet, deren Ziel es ist, „Akteur der eigenen Veränderung zu sein“ (Ehrenberg 2011: 492), sich also selbstverantwortlich als autonomes und kompetentes Individuum zu behaupten. Das Selbst wird zum Projekt, dem entweder unternehmerisch-optimierend (Bröckling 2007; King et al. 2021) oder neuerdings achtsam (Hardering/Wagner 2018) und resilient (Graefe 2019) zu einem glücklichen Ausgang verholfen werden soll. Der fragilen Selbstverwirklichung inmitten eines Kampfes um Sichtbarkeit auf Singularitätsmärkten (Reckwitz 2017) stehen vielfältige Wegweiser zur Seite – von Glücksratgebern (Duttweiler 2007) über Coachings (Traue 2010) bis hin zu digitalen Self-Tracking-Apps (Noji/Vormbusch 2018; Kappler/Noji 2022). Fragilität wird hier einerseits als ein (medial, technisch, praktisch) adressierbares Problem dargestellt. Zugleich lässt sie sich auch als eine Auszeichnung im Kontext einer historisch lang zurückreichenden Fragilitätssemantik begreifen. Beginnend mit der Empfindsamkeit als protomoderner Subjektformation etablieren sich in der Literatur Muster der Selbstbeschreibung unter dem Vorzeichen von Fragilität. Schon die Zeitgenossen Goethes beschreiben Formen gesteigerter, wenn nicht hypertrophierter Sensibilität als Folgefragilität zivilisatorischer Entlastungen und Errungenschaften. Seither begegnen uns in Literatur und kulturellem Wissen Fragilitätsdiskurse in Gestalt von psychosomatischen Zivilisations- und Modekrankheiten: Melancholie, Hypochondrie, Hysterie, Neurasthenie, Burn Out, Tinnitus (Steiner 2012). Wenn mit der femme fragile eine epochal prägnante Gestalt die soziokulturelle Bühne betritt, exemplifiziert dies, wie sich in der Ästhetisierung des hypersensiblen Leidens mentalitätsgeschichtliche, sozialpsychologische und ästhetische Aspekte von Fragilität verschränken.

  • Vom Fragilen geht eine besondere ästhetische Attraktivität aus: Das Zarte und Zierliche, das Empfindliche und Feine, das Filigrane, Grazile und Sachte gelten als fragil, das Zerbrechliche als schützenswert. Das Fragile erscheint zugleich aber auch als eine besondere Reflexionsfigur für die Verfasstheit der Moderne: Literatur und Film sind von fragilen Figuren bevölkert, mit denen diverse Subjektivitäts- und Identitätskonstruktionen verhandelt werden. Das reicht vom empfindsamen Genie bis zum Nervenschwachen; von Letzte-Mensch-Szenarien bis zu depersonalisierten Subjekten wie Kafkas K-Figuren in der Literatur, den schönen Frauenleichen der bildenden Kunst (vgl. Bronfen 1994/2004) oder den verschiedenen femmes fatales/femmes fragiles des Films. Selbst in der Architektur avanciert das Fragile mit der offenen Glas/Stahl-Bauweise zum Maßstab urbaner Gestaltung; nicht zuletzt wird das Fragile in den 1990er Jahren mit dem heroin chic zum Schönheitsideal der Mode und der Populärkultur. Dies ruft Fragen danach auf, wie Fragilität ästhetisch produktiv gemacht wird: Korrespondieren den fragilen Figuren auch fragile Erzählweisen sowie Darstellungsformen und Medien, denen Fragilität als etwas Gemachtes (Faktur) der Bruch (Fraktur) inhärent ist? Eine solche Ästhetik begreift das Fragile, das Gebrechliche, das Zerbrechliche, das Bedrohte immer auch als etwas Positives und Produktives. Gibt es also eine poiesis der Fragilität? Das Panel fragt grundsätzlich nach den Herkünften, den konkreten Ausgestaltungen und Wirkungsfeldern einer Ästhetik des Fragilen. Darüber hinaus sind folgende Fragen zentral: Inwieweit bietet sich Fragilität als Reflexionsfigur an, um Szenarien von Ungewissheit, eine Brüchigkeit des Zukunftswissens sowie kulturelle Identitäts- und Alteritätskonflikte, aber auch globale Krisenerfahrungen wie den Klimawandel zu verhandeln? Aus Genderperspektive lässt sich konkret fragen: Sind herrschende Weiblichkeitsentwürfe an eine Ästhetik der Fragilität gekoppelt? Und umgekehrt: In welchem Zusammenhang steht Fragilität zu einer Destabilisierung konventioneller, binärer Geschlechterbilder? Aus medienkulturwissenschaftlicher Sicht relevant sind die Fragen: In welchen medialen Formationen wird Fragilität inhaltlich thematisch? Wo spielen fragile Ordnungen formal und/oder auf der Verfahrensebene eine Rolle? Gibt es spezifische Gattungen, Genres oder gar Formate des Fragilen?

Literatur zur weiteren Recherche

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  • Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Bronfen, Elisabeth (1994/2004). Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. Würzburg: Königshausen und Neumann.
  • Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Duttweiler, Stefanie (2007): Sein Glück machen. Arbeit am Glück als neoliberale Regierungstechno-logie. Konstanz: UVK.
  • Ehrenberg, Alain (2011): Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin: Suhrkamp.
  • Graefe, Stefanie (2019): Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider das Lob der Anpassungsfähigkeit. Bielefeld: Transcript.
  • Hardering, Friedericke; Wagner, Greta (2018): Vom überforderten zum achtsamen Selbst? Zum Wandel von Subjektivität in der digitalen Arbeitswelt. In: Thomas Fuchs, Lukas Iwer und Stefano Micali (Hg.): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp, S. 258-278.
  • Hentschel, Christine; Krasmann, Susanne (2020) (Hg.): »Exposure« - Verletzlichkeit und das Politische in Zeiten radikaler Ungewissheit. Bielefeld: Transcript.
  • Jansen, Stephan A.; Schröter, Eckhard; Stehr, Nico (2013) (Hg.): Fragile Stabilität – stabile Fragilität. Wiesbaden: Springer VS.
  • Kappler, Karolin Eva/Noji, Eryk (2022): (Be-)rechenbare Zukunft: Digitale Selbstvermessung und ihre Bewertungsordnungen. In: Eryk Noji, Uwe Vormbusch, Arndt Neumann und Uwe Steiner (Hg.): Figurationen von Unsicherheit. Berlin: Springer VS, S. 161–190.
  • King, Vera; Gerisch, Benigna; Rosa, Hartmut (2021) (Hg.): Lost in perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche. Unter Mitarbeit von Julia Schreiber und Benedikt Salfeld. Berlin: Suhrkamp.
  • Nassehi, Armin (2021): Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. München: C.H. Beck.
  • Noji, Eryk; Vormbusch, Uwe (2018): Kalkulative Formen der Selbstthematisierung und das epistemische Selbst. In: psychosozial 41 (3), S. 16–35.
  • Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
  • Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frank-furt am Main: Suhrkamp.
  • Steiner, Uwe C. (2012): Ohrenrausch und Götterstimmen. Eine Kulturgeschichte des Tinnitus, München: Wilhelm Fink.
  • Stöhr, Robert/Lohwasser, Diana/Napoles, Juliane Noack/Burghardt, Daniel/Dederich, Mar-kus/Dziabel, Nadine/Krebs, Moritz/Zirfas, Jörg (2019): Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Traue, Boris (2010): Das Subjekt der Beratung. Zur Soziologie einer Psycho-Technik. Bielefeld: Transcript.