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Parlamentarisierung und Entparlamentarisierung von Verfassungssystemen

Termin: 05.12.2014 - 06.12.2014

Ort: Hagen, FernUniversität

Symposion des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften (DTIEV) der FernUniversität in Hagen


Illustration Foto: FernUniversität
FernUni-Rektor Prof. Helmut Hoyer (2.v.l.) und DTIEV-Direktor Prof. Peter Brandt (r.) begrüßten EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (2.v.r.) und seinen Vor-Vorgänger Klaus Hänsch.

Symposion

Seit der Mitte, verstärkt und geographisch ausgeweitet seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unterlag der europäische Verfassungsstaat einer Parlamentarisierungstendenz, die sich im 20. Jahrhundert, unterbrochen durch die Weltanschauungsdiktaturen faschistischen bzw. sowjetkommunistischen Typs, weiter fortsetzte. Und doch handelt es sich um einen geradlinigen und in jeder Hinsicht irreversiblen Prozess. Von Anfang wurde die systemimmanente Parlamentarisierung des Regierungssystems begleitet von Forderungen nach einer – dann durch starken, teils revolutionären Druck von unten beförderten – Demokratisierung des Wahlrechts, die aber zugleich in ein Spannungsverhältnis zum Parlamentarismus geraten konnte. Die Tagung widmet sich mit einem Eröffnungsvortrag des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, und in vier Podien, wie im DTIEV üblich interdisziplinär, den gegenläufigen Parlamentarisierungs- und Entparlamentarisierungsvorgängen in der modernen repräsentativen Demokratie (mit einem vergleichenden Blick auf den vordemokratischen Konstitutionalismus Österreich-Ungarns). Dabei werden direktdemokratische, präsidentielle und föderale Herausforderungen des parlamentarischen Systems und abschließend endogene Prozesse, auch auf EU-Ebene, in den Blick genommen.

Veranstaltungsort:

KSW, Seminargebäude A, OG
Raum 1 – 3 (Freitag) und 4 + 5 (Samstag)
Universitätsstr. 33, 58097 Hagen

Veranstalter:

FernUniversität in Hagen
Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (DTIEV)

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Tagungsbericht

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Die gegenläufigen Parlamentarisierungs- und Entparlamentarisierungsvorgänge in der modernen repräsentativen Demokratie standen auf dem Programm der jährlichen interdisziplinären Fachtagung des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften (DTIEV) der FernUniversität in Hagen. Dem interdisziplinären Charakter des Instituts entsprechend kamen die Referenten aus den drei beteiligten Fächern Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft. In den Blick nahmen sie neben dem Vergleich mit dem vordemokratischen Konstitutionalismus Österreich-Ungarns auch präsidentielle, direktdemokratische und föderale Herausforderungen des parlamentarischen Systems sowie endogene Prozesse, sowohl auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene.

Helmut Hoyer, Rektor der FernUniversität in Hagen, würdigte in seiner Begrüßung Werdegang, Wirkung und Wirkungskreis des im Jahr 2010 verstorbenen Wissenschaftlers und langjährigen Abgeordneten des Europäischen Parlaments Dimitris Th. Tsatsos. Dieser habe den „Weg der Europäischen Vervollkommnung“ interdisziplinär begleitet und eine Brücke zwischen Wissenschaft und Politik geschlagen.

Der Direktor des DTIEV, Peter Brandt, hatte den Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz (Straßburg/Brüssel) für den Eröffnungsvortrag gewinnen können und leitete die anschließende Diskussion. Martin Schulz sprach zur „Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europaparlament als Schritt zur weiteren Parlamentarisierung oder zur Entparlamentarisierung der Europäischen Union?“ Er sei einer der Mitinitiatoren und Akteure des Spitzenkandidaten für die Europawahl gewesen, bekannte Schulz, und stellte gleichwohl die Frage nach dem Gewinn für die Demokratie und ob angesichts der Globalisierung Handlungsfähigkeit und Demokratie zugleich bewahrt werden könnten. Ein klares „ja“ war seine Antwort. Die EU werde demokratisch sein oder scheitern. Ohne sie sei die parlamentarische Demokratie auch auf nationalstaatlicher Ebene, wo sie noch hauptsächlich angesiedelt sei, was aber nicht mehr „reiche“, bedroht. So etwas habe es noch nie gegeben: Eine transnationale Demokratie. Demokratie sei kein Zustand, Europa sei nicht, sondern Europa werde. Große Sorge machen ihm Rückschläge bei den parlamentarischen Rechten, eine schleichende Entparlamentarisierung. Das Königsrecht, das Haushaltsrecht, sei in Gefahr, verletzt zu werden, mahnte er und warb für einen stärkeren Zusammenhalt auf transnationaler Ebene. Parlamente müssten schwierig und unbequem sein sowie Zeit haben und langsam sein dürfen.

Das erste Podium „Parlamentarismus und präsidiale Demokratie“ startete unter der Leitung von Jörg Ennuschat (Bochum) mit Marianne Kneuer (Hildesheim) und ihrem Vortrag „Die Entwicklung semipräsidentieller Systeme in Osteuropa“, woran sich der Vortrag von Adolf Kimmel (St. Ingbert) „Die V. Französische Republik: Das Parlament in einer präsidialen Demokratie“ anschloss. Kneuer erläuterte, dass die Präsidenten Ostmitteleuropas in der politischen Realität ihre Spielräume nutzen, manche sie auch markant ausdehnen. Andere überschreiten ihre Kompetenzen sogar und nutzen insbesondere die Direktwahl als eine eigene starke Legitimationsquelle und als „Machtkarte“. Kimmel zeigte in seinem Referat die vorherrschende präsidentialistische Verfassungspraxis Frankreichs auf und deklarierte die V. Französische Republik zum Paradebeispiel einer Entparlamentarisierung. Zwar habe das Parlament in Frankreich an Einfluss zugenommen, es sei jedoch eines der schwächsten in der Europäischen Union.

Das zweite Podium „Der Souverän in Konkurrenz zu seinen Repräsentanten“ unter der Leitung von Arthur Schlegelmilch (Hagen) eröffnete Georg Kreis (Basel) mit seinem Beitrag „Volksbegehren versus Verfassungsgrundsätze? Zur schweizerischen Überdosis basisdemokratischer Selbstbestimmung“. Ihm folgte Werner J. Patzelt (Dresden) zum Thema „Mehr Bürgerbeteiligung auf dem Wege zu mehr direkter Demokratie?“ Kreis wies in seinem Beitrag darauf hin, dass das Verhältnis von Volksbegehren zur schweizerischen Verfassung umstritten und bis heute ungeklärt sei. Der Schlüssel liege bei der repräsentativen Demokratie, sie müsse das Problem lösen. Patzelt hält Volksabstimmungen für eine „Chemotherapie der freien Demokratie“. Er resümierte, das erste entscheidende Wort müsse das Parlament haben, das letzte das Volk, nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei Volksgesetzgebung und gesetzesaufhebenden Referenden.

Der zweite Tag startete mit dem dritten Podium - Parlamentarismus in Mehrebenensystemen - unter der Leitung von Arthur Benz(Darmstadt) mit dem Beitrag von Markus J. Prutsch (Brüssel) „Die Habsburgermonarchie 1848 bis 1918“. Daran schloss sich der Beitrag von Andreas Maurer (Innsbruck) an zum Thema „Die Einwirkung der nationalen Parlamente auf die europäische Ebene“. Prutsch warf in seiner historischen Exkursion einen Blick auf Begrifflichkeit und Formalverfassung und wandte sich dann den Wegmarken der Verfassungsentwicklung zu. Abschließend zog er einen Vergleich mit der Europäischen Union und stellte die Probleme dieses Vergleichs dar. Maurer warf die Frage auf: Wie übersetzen Parlamente das Wort Beteiligung, was verstehen sie darunter? Und wie misst man die Partizipation der nationalen Parlamente in EU-Angelegenheiten. Er kam zum Ergebnis, dass es nach Lissabon kein einheitliches Schema der nationalparlamentarischen Funktionsauslastung gibt.

Das vierte Podium - Endogene Prozesse der Parlamentarisierung und Entparlamentarisierung - unter der Leitung von Andreas Haratsch(Hagen) begann mit dem Vortrag von Ulrich Hufeld (Hamburg) „Parlamentarisierung durch Verfassungsrechtsprechung – das Bundesverfassungsgericht als Vormund des Bundestages oder als Wächter parlamentarischer Rechte?“. Die Vortragsreihe beendete Peter Schiffauer (Hagen) mit seinem Beitrag zum Thema „Verhandlungen in Gesetzgebungsverfahren – eine Stärkung oder eine Schwächung des Parlaments im Verhältnis zur Exekutive?“ Hufeld vertrat die Auffassung, das Bundesverfassungsgericht müsse dem Selbstentmachtungsdrang des Parlaments entgegenwirken, müsse Hüter der Verfassung und Wächter parlamentarischer Rechte bleiben. Schiffauer widmete sich der Kritik, dass dadurch, dass das Europäische Parlament in zunehmendem Maße - bis zu 70 Prozent - der Gesetzgebungsverfahren in erster Lesung aufgrund von Verhandlungen mit dem Rat abschließe, dies zu einer Schwächung der Durchsetzungsfähigkeit des Parlaments und einer Stärkung der Exekutive, des Rates, führe.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Symposion vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Gefährdungen und Chancen die Rolle von Parlamenten und ihre Machtposition beleuchtete - interdisziplinär und multispezifisch, wie es dem Dimitris-Tsatsos-Institut entspricht. Die einzelnen Beiträge wurden lebhaft diskutiert und die Veranstaltung ihrem Anspruch gerecht, auch ein Forum der Kommunikation und des Dialogs zu schaffen.

Die auf dem Symposion gehaltenen Beiträge werden in der Schriftenreihe des DTIEV veröffentlicht.


Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Parlamentarisierung und Entparlamentarisierung von Verfassungssystemen. Symposion des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften, FernUniversität in Hagen am 5./6. Dezember 2014", in: ZParl, Heft 1/2015, S. 226-227 von Dr. Ingrid Piela und Sandra Labudda.

DTIEV | 22.02.2023