Muster der Verfassungsreform von föderalen Strukturen

Forschungsprojekt gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Laufzeit: 04/2008-08/2011

Leitung: Prof. Dr. Arthur Benz, FernUniversität in Hagen, Institut für Politikwissenschaft, ab 1.10.2010 Technische Universität Darmstadt, Fachbereich 2, Institut für Politikwissenschaft

Forschungsgruppe: Andrea Fischer, M.A., Dominic Heinz, M.A., Bettina Helbig, M.A., Dr. Eike-Christian Hornig (10/2009 - 9/2010), Dr. Nathalie Behnke (bis 06/2009)

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Projektbeschreibung

Verfassungsnormen regeln die grundlegende Ausgestaltung vertikaler und horizontaler Gewaltenteilung sowie die Beziehungen zwischen den Regierungs- und Verwaltungsebenen sowohl in unitarischen als auch in föderalen politischen Systemen. In einem verflochtenen Regierungssystem steht die Verteilung von Kompetenzen und Ressourcen unter permanentem Neuverhandlungszwang und Anpassungsdruck, da sowohl zentralstaatliche als auch substaatliche Akteure eine Ausweitung ihrer Kompetenzen anstreben. Hierdurch können zentrifugale oder zentripetale Dynamiken im Mehrebenengefüge entstehen.

Ein legitimer und belastbarer Verfassungsrahmen stellt in diesem Zusammenhang die Stabilität des Systems sicher. Föderale Verfassungen haben jedoch mit einem Dilemma zwischen Stabilität und Flexibilität zu kämpfen: einerseits unterliegen Verfassungsregeln der ständigen Notwendigkeit zur Anpassung an territoriale Machtverschiebungen und ökonomischen, kulturellen oder sozialen Wandel. Andererseits müssen Verfassungsregeln vor zu einfachem Wandel geschützt werden, da sonst ihre Funktion der Gewährleistung von Stabilität und Legitimität eines existierenden Systems beschädigt werden würde. Daher sind Verfassungen üblicherweise durch besondere Änderungsformeln geschützt, die Verfahren, Vetospieler und/oder qualifizierte Mehrheiten bestimmen. In Anbetracht dieser Hürden werden die Chancen für den erfolgreichen Abschluss von Verfassungsreformen in föderalen Systemen als gering eingeschätzt. Tatsächlich treten Verfassungsreformen bezüglich der territorialen Ordnung eines Staates jedoch relativ häufig auf.

Das Ziel des Forschungsprojektes ist es, empirisch zu untersuchen, wie föderale, sich föderalisierende oder dezentralisierende Systeme mit dem Dilemma zwischen der Notwendigkeit von und dem Widerstand gegen Verfassungswandel umgehen. Wie vermeiden sie Blockaden, die langfristig die Legitimität der Verfassung untergraben würden? Wie passen sie ihre Verfassungen an veränderte Rahmenbedingen und Anforderungen an? Um die relevanten Mechanismen dafür herauszufinden, rekonstruiert und analysiert das Projekt Verfassungsreformprozesse in neun Ländern mit besonderem Augenmerk auf die jeweiligen Mehrebenesysteme und den intergouvernementalen Beziehungen. Wir gehen davon aus, dass das komplexe Zusammenspiel von Institutionen sowie Akteursstrategien und -interessen Aufschluss über die Bedingungen von Erfolg und Scheitern von Verfassungsreformprozessen gibt. Da weder Verfassungstheorien noch Föderalismustheorien einen Erklärungsrahmen bieten, in dem man Hypothesen über Mechanismen des föderalen Verfassungswandels formulieren und testen kann, arbeitet das Projekt, ausgehend von einem analytischen Modell von institutionellen Reformen, explorativ auf Theoriebildung hin.

  • Es wird angenommen, dass föderale Verfassungsreformen Reaktionen auf die folgenden Problemtypen darstellen:

    1. Föderalstaaten, die eine ausgeprägte institutionalisierte Repräsentation substaatlicher Einheiten auf der föderalen Ebene und Vielzahl von Interdependenzen aufweisen, neigen zu verflochtenen Strukturen und daraus folgenden Ineffizienzen bei der Politikgestaltung. In diesen Fällen sind Verfassungsreformen auf Entflechtung und Effizienzsteigerung gerichtet. Dieser Problemtyp ist vorherrschend in den kürzlich durchgeführten Reformen in Deutschland (Föderalismusreform I und II 2003-2009), in der Schweiz (Neuer Finanzausgleich 1987-2008) und in Österreich (Österreich-Konvent 2003-2004).
    2. In Föderalstaaten mit verschiedenen ethnischen, religiösen, sprachlichen oder kulturellen Gruppen werden Forderungen nach mehr Autonomie und Neuverteilung von Ressourcen mit der Anerkennung von kulturellen Besonderheiten verknüpft. Kompetenzen werden in diesen Fällen auch asymmetrisch verteilt, um das Auseinanderbrechen des Staates zu verhindern. Dieser Problemtyp findet sich vor allem in Kanada (Charlottetown Accord 1992), Belgien (Lambermont Abkommen 2000/01) und in Spanien, wo Verfassungswandel auch durch eine Neuformulierung der Autonomiestatute der substaatlichen Einheiten stattfindet (bspw. in Katalonien 2006).
    3. In traditionell unitarischen Staaten fordern Regionen oder substaatliche Einheiten zunehmend mehr Autonomie, ein Trend, der durch die Europäische Union unterstützt wird. In Reaktion auf den Druck substaatlicher Eliten haben diese Staaten begonnen, Dezentralisierungs- oder Föderalisierungsreformen durchzuführen, im Zuge derer sie den Regionen mehr Autonomie zugestanden oder gewählte Versammlungen für mehr Bürgernähe eingerichtet haben. Dieser Problemtyp ist vorherrschend in den kürzlich durchgeführten Reformen in Großbritannien (Devolution in Schottland und Wales 1997/98), Frankreich (Dezentralisierungsreform 2003) und in Italien (Reform des Titels V der Verfassung 2001).

    Die Fallauswahl erfolgte nach den drei skizzierten Problemtypen von Verfassungsreformen. Varianzen sind sowohl auf den unabhängigen Variablen - z.B. institutionelle und kontextuelle Faktoren, Akteurskonstellationen und Interessen - als auch auf der abhängigen Variablen - Erfolg des Reformprozesses - vorhanden. Das Design ist nicht streng hypothesentestend angelegt, sondern dient der Ermittlung von Kausalmechanismen und Erklärungsfaktoren in einem systematischen Vergleich von Fallstudien. Dadurch ermöglicht die Varianz der relevanten Faktoren innerhalb einer mittleren Fallzahl, systematisch nach Mustern und Kombinationen von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu suchen, welche die unterschiedlichen Ergebnisse erklären.

  • Projektfortgang

    Datenerhebung über Expertengutachten zu den einzelnen Fällen von Verfassungsreformen: Abschluss Dezember 2009

    Interviews mit politischen Akteuren und Experten der ausgewählten Länder: laufend; Abschluss geplant September 2010

    Planung einer Konferenz mit den Experten im Frühjahr 2011.

    Organisation von Workshops und Panels

    Workshop zu „Politics of Constitutional Change“ bei den ECPR Joint Sessions, April 2008 in Rennes – Arthur Benz und César Colino (UNED Madrid).

    Workshop zu „Verfassungsreformen im Vergleich“ auf der Dreiländertagung von DVPW, ÖGPW und SVPW in Osnabrück, November 2008 – Arthur Benz, Nathalie Behnke, Dietmar Braun (Universität Lausanne) und Katharina Holzinger (Universität Konstanz).

    Panel zu „Decentralisation in unitary states“ von Andrea Fischer und Nathalie Behnke auf der ECPR General Conference, September 2009 in Potsdam

    Konferenzpapiere

    • Behnke, Nathalie (2008): „Towards a new organization of federal States? – Lessons from the processes of constitutional reform in Germany, Austria, and Switzerland“, ECPR Joint Sessions of Workshops, April 2008 in Rennes
    • Behnke, Nathalie (2008): „Die Analyse von Verhandlungen in Verfassungsreformen – Fragestellungen und Instrumente“, Dreiländertagung, November 2008 in Osnabrück
    • Benz, Arthur (2008): „Stability and instability in Federal Systems – Canada and German Compared“; Annual Conference of the IPSA Research Committee 28 „Balancing Federal Systems: Implications for Politics and Policy“, October 3-4, 2008, in Berlin
    • Benz, Arthur (2008): „Misslungene Reform und erfolgreiches Scheitern. Verfassungspolitik in Deutschland und Kanada im Vergleich“, Dreiländertagung, November 2008 in Osnabrück
    • Benz, Arthur (2009): “Multilevel governance. A Framework of Analysis“, ECPR General Conference, September 2009 in Potsdam
    • Fischer, Andrea und Benke, Nathalie (2009): „Decentralisation in unitary states – the role of sub-national authorities“, ECPR General Conference, September 2009 in Potsdam
    • Heinz, Dominic (2009): „The Second Stage of Federal Reforms in Germany: Between Everyday- and Constitutional Policy Making“, ECPR General Conference, September 2009 in Potsdam
    • Heinz, Dominic (2009): „The Second Stage of Federal Reforms in Germany: Between Everyday- and Constitutional Policy Making“, GSA Annual Conference, Oktober 2009 in Washington
    • Helbig, Bettina (2008): „Verfassungswandel in Belgien – Entwicklungslinien und Dynamiken in historischer Rekonstruktion“, Dreiländertagung, November 2008 in Osnabrück
    • Helbig, Bettina (2009): „Bi- or multipolar? Path dependent dynamics of Belgian Federalism“,ECPR General Conference, September 2009 in Potsdam
  • Andrea Fischer (Magister in Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Anglistik) arbeitete nach ihrem Studium in Augsburg, Londonderry und Heidelberg am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung in einem DFG-Projekt zu Partizipation bei der Europäischen Kommission. Seit Juni 2008 ist sie als Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt in Hagen zuständig für die Reformprozesse in Großbritannien und Frankreich.

    Dominic Heinz (Magister in Politikwissenschaft, Osteuropäische Geschichte und Kommunikationswissenschaft / Master of Arts in Russian Studies) arbeitete nach seinem Studium in Bonn und St. Petersburg am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung zu Europawahlen und am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung zu Migranten als politische Akteure. Im DFG-Forschungsprojekt in Hagen seit September 2008 bearbeitet er Verfassungsreformen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

    Bettina Helbig (Magister in Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Kommunikationswissenschaft) war nach ihrem Studium in Augsburg zunächst am Institut für Kanadastudien in Augsburg tätig, währenddessen Forschungsaufenthalt am Institute of Intergovernmental Relations, Queen’s University, in Kanada. Seit September 2008 im DFG-Forschungsprojekt in Hagen bearbeitet sie Verfassungsreformen in Kanada, Belgien und Spanien.

    Eike-Christian Hornig (seit 1. 10. 2009) (Magister in Politikwissenschaft, Medienwissenschaft und Neuerer und Neuester Geschichte) war im Anschluss an sein Studium an den Universitäten in Osnabrück und Rom als Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter von Prof. Dr. Ralf Kleinfeld im Lehrgebiet der Vergleichenden Politikwissenschaft der Universität Osnabrück. Für seine Lehrtätigkeit wurde er 2007 mit dem Hans Mühlenhoff-Preis ausgezeichnet. Seine Dissertation verfasste Hornig über die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa. Seit Oktober 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt in Hagen zuständig für die Reformprozesse in Italien.

    Nathalie Behnke (bis 31. 6. 2009) Lehrstuhl für empirische Sozialforschung an der Ruhr-Uni Bochum seit 07/2009) arbeitete nach ihrem Studium in Bamberg und Bologna zunächst am Institut für Politikwissenschaft der FernUniversität in Hagen mit Forschungsaufenthalten in Washington. Für ihre Promotion über Ethik in Politik und Verwaltung wurde sie mit dem Preis der DVPW für die beste Dissertation im Jahr 2004 ausgezeichnet. Im Forschungsprojekt war sie für Design und Methodologie sowie die inhaltliche Koordination verantwortlich und bearbeitete Verfassungsreformprozesse in der Schweiz und in Italien.

    • Nathalie Behnke, Agenda-Setting für Verfassungsreformen, in: Susumu Shikano/ Joachim Behnke/ Thomas Bräuninger (Hg.): Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Bd. 5: Theorien des Verfassungswandels. Wiesbaden: VS-Verlag, 2009, 7-50.
    • Nathalie Behnke, Arthur Benz (Hrsg.), Federalism and Constitutional Change, “Publius. The Journal of Federalism” Special Issue 39 (2), Oxford: Oxford University Press 2009.
    • Nathalie Behnke, Arthur Benz, The Politics of Constitutional Change between Reform and Evolution, in: Publius: The Journal of Federalism, 39 (2), 2009, S. 213-240.
    • Arthur Benz, Constitutional Change in Multilevel Government: The Art of Keeping the Balance (in cooperation with Andrea Fischer-Hotzel, Dominic Heinz, Eike-Christian Hornig, Jörg Kemmerzell, Bettina Petersohn), Oxford: Oxford University Press, 2016.
    • Arthur Benz, Felix Knüpling (Hrsg.) Changing Federal Constitutions. Lessons from International Comparison, Opaden, Berlin, Toronto: Barbara Budrich Publishers, 2012.
    • Dominic Heinz, Politikverflechtung in Föderalismusreformen. Deutschland, Österreich und die Schweiz in vergleichender Perspektive. Baden-Baden: Nomos, 2013.
    • Andrea Fischer-Hotzel, Vetospieler in territorialen Verfassungsreformen. Britische Devolution und französische Dezentralisierung im Vergleich. Baden-Baden: Nomos, 2013.
    • Bettina Petersohn, Konfliktregulierung in multinationalen Demokratien. Föderalismus und Verfassungsreformprozesse in Kanada und Belgien im Vergleich. Baden-Baden: Nomos, 2013.
DTIEV | 08.04.2024