Lehren gegen „extreme Ungleichheit“

Die Hegel-Forschung aus Hagen und Lateinamerika steht in regem Austausch miteinander. Welche Schlüsse aus dem Werk des deutschen Philosophen erlaubt die internationale Perspektive?


Reiche und ärmliche Häuser von oben Foto: Casper te Riele/iStock/Getty Images Plus/Getty Images
Urbane Ungleichheit: In Lateinamerika prallen Arm und Reich harsch aufeinander – das zeigt sich zum Beispiel auch in der Stadtarchitektur Bogotás.

„Unsere Hegel-Forschung soll keine Einbahnstraße sein“, erklärt Prof. Dr. Thomas Sören Hoffmann das wissenschaftliche Selbstverständnis seines Hagener Lehrgebiets Philosophie II. Programme wie das deutsch-lateinamerikanische Forschungs- und Promotionsnetzwerk FILORED zielen bewusst darauf ab, den direkten Austausch auf Augenhöhe zu ermöglichen. „Wir wollen eben nicht einfach die lateinamerikanischen Partner mit unseren Ansichten zu Hegel missionieren, sondern ihre eigenen Sichtweisen kennenlernen und verstehen“, formuliert Prof. Hoffmann seinen Anspruch.

Dieser erfüllt sich derzeit auf dem Campus der FernUniversität in Hagen: Hier sind momentan eine Wissenschaftlerin und drei Wissenschaftler aus Lateinamerika zu Gast (s. Infobox). Darunter ist auch Prof. Dr. Dr. Andrés Felipe Parra Ayala von der Universidad de los Andes in Bogotá. Der Kolumbianer ist für zwei Monate als Gastwissenschaftler in Hagen, finanziert von der internen Forschungsförderung der FernUniversität. Den größeren Rahmen bildet das Projekt „Hegel und Lateinamerika“, das der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) für die Laufzeit von zwei Jahren trägt.

Liberales Hegel-Verständnis

Doch was verbindet Lateinamerika überhaupt mit dem deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)? Seine Perspektive sei nicht zuletzt wegen der politischen Gemengelage interessant, betonen die beiden Forscher. „Hegel gibt uns normative Grundlagen, um auf bestimmte Probleme, die in Lateinamerika vorhanden sind, zu reagieren“, merkt Prof. Parra an. Vor allem lassen sich aus dem Werk des deutschen Philosophen Lehren ziehen, die Alternativen zu aktuellen politischen Entwicklungen aufzeigen. „Mit Hegel können wir die extreme Ungleichheit im Land angehen, ohne die Freiheit zu opfern“, pointiert der kolumbianische Forscher – auch mit Blick auf rein regulatorische Politiken einiger linker Parteien.

Zwar kämpften diese durchaus für mehr Gleichheit, nach Parras hegelianischer Lesart allerdings unter den falschen Vorzeichen. „Hegel macht die Freiheit zur normativen Grundlage von Umverteilung.“ Es bedürfe daher keines stärkeren Eingreifens von oben – im Gegenteil: Ungleichheit könne nach Hegel spontan überwunden werden, durch eine freie, auf gegenseitige Anerkennung gegründete Selbstorganisation der Gesellschaft, die die Würde aller ihrer Mitglieder achtet. „Dafür müssen jedoch zwei Rechte garantiert werden: die freie Assoziation und das Privateigentum.“

Gruppenfoto Foto: FernUniversität
Gäste und Gastgeber (v.li.): Ludwig Krüger, Prof. Thomas Sören Hoffmann, Prof. Andrés Felipe Parra Ayala, Prof. Luis Eduardo Gama, Luis Ángel Méndez Mogollón (nicht im Bild: Cecilia Giudice)

Hegel an der Quelle verstehen

Parra beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit Hegels Werk, hat unter anderem in Bonn darüber promoviert. Direkt an der Quelle zu forschen, findet er wichtig: „Hegel ist ein deutscher Philosoph, hat auf Deutsch geschrieben und gehört zur Tradition der klassischen deutschen Philosophie“, argumentiert Parra. „Ich glaube, das ist nicht nur aus geographischen, sondern auch aus interpretatorischen Gründen wichtig.“ So komme es zum Beispiel in US-amerikanischen Hegel-Interpretationen häufig zu Verzerrungen, Vereinfachungen und Missverständnissen. „Ich möchte meine eigenen Kenntnisse über Hegel erweitern, aber auch auf Teile meiner Arbeit auf Deutsch vorstellen.“ Dabei hilft dem Forscher die besondere technische Infrastruktur der FernUniversität – etwa die Möglichkeit, Vorträge direkt im Videostudio auf dem Hagener Campus aufzeichnen.

Noch bleibt Zeit für einige gemeinsame Vorhaben: Das DAAD-Projekt „Hegel und Lateinamerika“ ist auf zwei Jahre ausgerichtet und dauert bis Dezember 2023 an. Vor diesem Hintergrund wird Hoffmann seinerseits nach Kolumbien reisen, um in Bogotá zu lehren. Doch auch nach Projektende steht für die beiden Forscher fest: „Wir bleiben auf jeden Fall im engen wissenschaftlichen Kontakt.“

Wissenschaftliche Gäste im Lehrgebiet Philosophie II:

  • Prof. Dr. Dr. Andrés Felipe Parra Ayala, Universidad de los Andes, Bogotá –Kooperationspartner im DAAD-Projekt „Hegel und Lateinamerika“
  • Prof. Dr. Luis Eduardo Gama, Universidad Nacional de Colombia, Bogotá – Verantwortlicher für seine Universität im FILORED-Netzwerk
  • Luis Ángel Méndez Mogollón, Universidad de los Andes, Bogotá – Doktorand bei Prof. Gama im Rahmen von FILORED
  • Cecilia Giudice, Pontificia Universidad Católica Argentina, Buenos Aires, Doktorandin (FILORED) und vormalige STIBET-Stipendiatin (DAAD), Abschlusstipendiatin
 

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Benedikt Reuse | 11.07.2023