Ankommensort Hagen

Ein Forschungsprojekt im Lehrgebiet Oral History untersucht, wie ukrainische Geflüchtete im Alltag zurechtkommen und wie sich ihre Bewältigungsstrategien verändern.


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Über 1.500 Ukrainer:innen leben in Hagen: hauptsächlich Frauen, Kinder und Ältere. Die meisten Männer sind im Krieg. In einem völkerrechtswidrigen Krieg, den Russland vor mehr als zwei Jahren begonnen hat und der seitdem an Härte und Zerstörung zunimmt. Er sorgt bei den Geflüchteten für Zerrissensein und Ungewissheit. Langsam entsteht jedoch die Perspektive, in der Stadt zu bleiben, die zunächst nur ein Zufluchtsort war. Hagen könnte für einige von ihnen tatsächlich zu einer neuen Heimat werden.

Das Citizen-Science-Projekt „Ankommen in Hagen“ beschäftigt sich unter anderem mit den Herausforderungen, die ukrainische Menschen im Alltag bewältigen müssen. Es untersucht, wie sie Hilfe und Unterstützung finden können – sowohl extern als auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Das FernUni-Projekt selbst bietet der neuen ukrainischen Gemeinschaft in Hagen einen Ort, um sich auszutauschen und Beratung durch Referent:innen zu verschiedenen Themen zu erhalten.

Identifikation und Selbstermächtigung

Nach zwei Jahren ist aus dem Zufluchtsort für viele ein Ankommensort geworden. „Hagen ist inzwischen ein Ort geworden, an dem die Ukrainer:innen leben wollen – sogar gern leben wollen. Viele sind ja eher zufällig nach Hagen gekommen“, fasst Angela Beljak zusammen. Die Forscherin stammt aus Kyiv und arbeitet als Gastwissenschaftlerin in dem Projekt an der FernUni.

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Die Angebot zur Beratung im Projekt werden gut angenommen von den Ukrainer:innen – wie die Veranstaltung mit Sofia Popova-Oliinik im Februar 2024.

Seit Oktober 2023 führt Beljak Interviews in der ukrainischen Community – erzählte Geschichte(n). Eine Frau hat ihre Erlebnisse schriftlich eingereicht. „Sie konnte es nicht aussprechen“, erzählt Angela Beljak. Zum Auftakt im vergangenen Oktober gab es eine Podiumsdiskussion in Hagen über den Krieg in der Ukraine. Schnell war klar, die ukrainische Community in Hagen mit einzubeziehen. „Wir leiten die Ukrainer:innen insgesamt zur Selbsthilfe an – und bei Citizen Science geht es um die aktive Teilnahme am Forschungsprozess. Das ist wichtig für die Motivation, um den Ort zum Leben für sich zu organisieren.“

Dazu beigetragen hat auch eine Stadtführung mit dem Historiker Dr. Fabian Fechner von der FernUniversität, der Hagen als vielschichtigen Raum näherbrachte, geprägt von der Ankunft neuer Gruppen von Migrant:innen. „Das sind wichtige kleine Momente. Sie zeigen, wie wichtig Hagen als Ort ist – sich sicher zu fühlen und Identifikation zu schaffen“, erinnert sich Angela Beljak. Identifikation stabilisiert das Leben.

Kriegsfront und Anpassung

Gleiche Sprache, gleiche Situation…immer gleiche Bedürfnisse? „Die Bedürfnisse und Erwartungen haben sich deutlich verändert“, kann Beljak aus ihren Interviews sagen. „Am Anfang stand die Perspektive Rückkehr in die Ukraine, zum Jahresende gab es eher eine Phase der Niedergeschlagenheit und Ernüchterung. Dann folgte die Akzeptanz. Aktuell kommt die Bleibeperspektive durch. Die Ukrainer:innen haben wieder Ressourcen, sich mit der eigenen Zukunft auseinanderzusetzen.“ Das Kriegsgeschehen in der Ukraine bestimmt den Anpassungswillen mit.

Im Fokus der Forschung steht dabei die Fähigkeit und Notwendigkeit ukrainischer Frauen, ihr Leben in der Fremde selbst zu organisieren. Gerade die Frauen sind nun in der Rolle, allein zu entscheiden und mehr Verantwortung für die Familie zu übernehmen. „Und das tun sie auch“, berichtet Beljak. „Sie wachsen an den Herausforderungen und ermächtigen sich selbst: Wenn ich das geschafft habe, schaffe ich noch mehr.“

Orientierungs- und Entscheidungshilfe

Darunter fällt etwa, dass die Kinder in Deutschland zur Schule gehen sollen. Die Frauen loten ihre eigenen Aussichten aus: Studium, Weiterbildung, Job? „Viele wollen arbeiten, haben in der Ukraine auch gearbeitet“, sagt Janna Keberlein, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin an der FernUni in Hagen. „Die Geflüchteten gehören vornehmlich zur mittleren Schicht und haben eine Ausbildung.“

Beteiligte Forscher:innen

In Deutschland steht erstmal der Deutschkurs an. Das bremst grundsätzlich die Aufnahme eines Jobs aus, ebenso wie die fehlenden Betreuungsplätze für kleinere Kinder. „In manchen Städten haben Ukrainer:innen Kita-Gruppen gegründet oder organisieren sich privat.“ Was häufig verkannt wird: „Viele Ukrainer:innen arbeiten weiterhin, von Deutschland aus in der Ukraine.“

Wer konkrete Ideen entwickelt, muss den Kampf mit dem System aufnehmen. Dafür braucht es Unterstützung, Netzwerke und Angebote. Sprachkurse sind ein wichtiger Ort, um Kontakte aufzunehmen und Netzwerke zu knüpfen. Auch die Flüchtlingsunterkünfte spielen dafür eine große Rolle. Das Team aus dem Lehrgebiet um Prof. Felix Ackermann weitet die Hilfe vor Ort ebenfalls aus: „Wir möchten gezielt Orientierungs- und Entscheidungshilfe geben, wie man eine Zwischenzeit überbrückt. Gerade die Kinder und Jugendlichen fühlen sich verloren“, ergänzt Keberlein.

Persönliche Begegnungen und Chats

Ein wichtiges Werkzeug im Ankommensprozess ist das Smartphone für die Servicekanäle der Messengerdienste: „Die haben mitunter mehrere tausend Mitglieder pro Chat“, beschreibt Keberlein. „Das geht mit lebenspraktischen Fragen los und reicht bis hin zu Hilfestellung bei Bewerbungen.“

Dennoch ersetzen sie nicht die persönlichen Begegnungen und die direkten Gespräche. Ein Ehepaar, das seit 20 Jahren in Hagen lebt, organisiert regelmäßig ein ukrainisches Café als Treffpunkt in den Räumen einer Hagener NGO. „Ukrainer:innen können hier ihre Feste feiern und so ein Stück ihrer Kultur bewahren. Dazu laden sie Deutsche ein. Das verbindet“, stellt Angela Beljak fest. „Kultur überwindet Barrieren.“

  • „Nach über einem Jahr ist klar: Es ist der bestdokumentierte Krieg im 21. und wahrscheinlich auch im 20. Jahrhundert“, beurteilte Prof. Dr. Felix Ackermann den Krieg in der Ukraine. An der FernUniversität in Hagen leitet er das Lehrgebiet Public History. Auch er arbeitet mit seinem Team daran, die Geschichte des Kriegs festzuhalten – mit lebensgeschichtlichen Interviews: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählen in einem geschützten Rahmen über ihre Erlebnisse, die sich so systematisch archivieren lassen. Das Hagener Institut für Geschichte und Biographie ist ein wichtiger Vorreiter der Oral History in Deutschland. Mit seiner Expertise beteiligt sich das Team der FernUniversität nun solidarisch an einem internationalen Dokumentationsprojekt des Center for Urban History in Lwiw. Den Start der Kooperation begleitete ein öffentliches Podiumsgespräch im Emil Schumacher Museum Hagen: „Krieg der Gegenwart, Krieg der Geschichte. Ukrainische und deutsche Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine“.

    Dazu nahm die ukrainische Oral-History-Expertin Natalia Otrishchenko Stellung: „Der Krieg nimmt uns viele Möglichkeiten, aber wir können bestimmen, wem wir unsere Geschichte erzählen, wann und wie wir sie bewahren.“ Aus Interviews werden so historische Quellen, die die spätere Aufarbeitung ermöglichen. „Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, Brücken zwischen den verschiedenen Erfahrungen innerhalb der Gesellschaft zu bauen und uns der Außenwelt besser zu erklären.“

    An das internationale Dokumentationsprojekt sind zwei Forschungsprojekte in Hagen angeschlossen: „Ankommen in Hagen“ (Angela Beljak) und „Ein Jahrzehnt Krieg“ (Dr. Oksana Tytarenko). In letzterem geht es um die Menschen, die vor 2014 in der Donbas-Region gelebt haben und mit der Besetzung der Krim durch Russland nach Deutschland geflohen sind.

    Mehr über das Projekt (PDF 2 MB)


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Anja Wetter | 12.04.2024