Kolloquium

Thema:
Deutschland 1870 - 1933 - eine soziale Klassengesellschaft? Ein Geschichtsbild auf schwachem Fundament
Referent/-in:
Hendrik Tieke, Halle
Adresse:
FernUniversität Hagen Neubau KSW, Universitätsstraße 33 Gebäudeteil B, Raum B 0.025
Termin:
07.03.2017, 18:15 Uhr

Deutschland in Kaiserreich und Weimarer Republik – eine Klassengesellschaft. Die Deutschen bildeten soziale Klassen, blieben darin unter sich und hatten mit den Menschen anderer Klassen kaum etwas zu tun. Das ist das vorherrschende Geschichtsbild von der Gesellschaft der Epoche. Niemand hat es bisher systematisch und kritisch analysiert.

Genau das habe ich in den letzten viereinhalb Jahren getan. In diesem Vortrag werde ich die Ergebnisse dieser Arbeit präsentieren. Im ersten Teil werde ich zeigen:

  • Das empirische Fundament des Geschichtsbildes bezieht sich auf eine Minderheit der Deutschen, die nicht repräsentativ ist.
  • Soziale Beziehungen zwischen „Klassen“ wurden nur sehr eindimensional gemessen, sodass ein verzerrtes Bild von sozialer Geschlossenheit entstanden ist.
  • Es ist kein schlüssiges theoretisches Konzept dazu verwendet worden, was soziale Klassen sind und wer genau dazugehörte.
  • Und: Die überlieferten Quellen ermöglichen es gar nicht, Menschen in großem Stil in präzise umrissene Klassen einzuteilen. Soziale Klassenbildung kann also gar nicht präzise gemessen werden.

Im zweiten Teil des Vortrages werde ich dann zeigen, wie man zumindest grob überprüfen kann, ob die Deutschen soziale Klassen bildeten. Dafür werde ich die Historische Sozialgruppenanalyse vorstellen (kurz: HSG-Analyse), die ich für diesen Zweck entwickelt habe. Sie berücksichtigt die verschiedenen Ebenen, auf denen Menschen soziale Beziehungen miteinander eingehen: etwa Ehen, Vereinsmitgliedschaften, Nachbarschaften, Trauzeugenschaften und einige mehr. Mit ihr lassen sich soziale Kontaktprofile von einzelnen sozialen Gruppen erstellen, die leicht verständlich sind.

Im dritten Teil des Vortrages werde ich schließlich anhand einer Fallstudie zeigen, wie man mit der HSG-Analyse arbeiten kann. Untersuchungsort ist eine deutsche Kleinstadt; Datengrundlage sind mehr als 40.000 Personeneinträge aus Kirchenbüchern, Vereinsregistern, Adressbüchern, Parteilisten und mehr. Die Ergebnisse zeigen: An diesem Ort gab es keine sozial getrennte Klassengesellschaft.

Zur Person: Hendrik Tieke ist Historiker und Journalist. Er schließt gerade seine Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Ethnologie in Halle ab.

Karin Gockel | 08.04.2024