Kolloquium

Thema:
Nomadische Nostalgie. Die Vergegenwärtigung des Stalinismus und die Rückkehr zu den verlorenen Wurzeln in der Erinnerungskultur Kasachstans
Referent/-in:
Hera Shokohi, Bonn
Adresse:
FernUniversität, Universitätsstraße 33, Gebäude 2, Raum 6
Sofern Sie an einer TN per Zoom interessiert sind, wenden Sie sich bitte an karin.gockel@fernuni-hagen.de
Termin:
01.07.2025 18:00 Uhr

Hera Shokohi: Nomadische Nostalgie. Die Vergegenwärtigung des Stalinismus und die Rückkehr zu den verlorenen Wurzeln in der Erinnerungskultur Kasachstans

„Land kann man rauben, Besitz kann man rauben, sogar das Leben kann man rauben“, überlegte sie laut, „wer aber hat sich das ausgedacht, wer wagt es, einem Menschen das Gedächtnis zu entreißen? Herrgott, wenn es dich gibt, wie konntest du den Menschen so etwas eingeben? Ist sowas nicht ohnehin genug Niedertracht auf Erden?“ Tschingis Aitmatow: Ein Tag länger als ein Leben, Zürich 2015, S. 161.

Der Erzähler des Romans Ein Tag länger als ein Leben (1981) des sowjetischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow (1928 – 2008) teilt mit den Lesenden verschiedene (fiktive) Legenden der Kasach:innen, darunter auch die Legende des Mankurt. Der Mankurt ist ein Entführungsopfer, welches in die Sklaverei getrieben wird und durch gewaltvolle Fremdeinwirkung sein Gedächtnis verliert. Ein Mankurt erinnert sich nicht an seine Mutter, seinen Vater, seinen Stamm oder seine Wurzeln. Aitmatows Roman aus den frühen 1980er-Jahren liest sich wie eine allegorische Blaupause für den Umgang mit sowjetischer und stalinistischer Gewalt in nicht-russischen Gebieten der Sowjetunion. Die Figur des Mankurt greift Krieg, Okkupation, Fremdherrschaft und Amnesie auf: So wird der Mankurt für den Versuch, sich an seine Vergangenheit zu erinnern, gestraft und diszipliniert, er wird zu einem bewusstseinslosen Arbeiter für diejenigen, die ihn einst entführten und gewaltvoll seine Erinnerung auslöschten.

Anhand von Aitmatows fiktiver Legende, die mittlerweile in einigen turksprachigen Communites auch als reale historische Gegebenheit gesehen wird, können verschiedene Elemente der gegenwärtigen kasachstanischen Erinnerungskultur kontextualisiert und interpretiert werden. Letztlich ist die Figur des Mankurt nämlich auch eine Figur des Kolonisierten, dessen Leben ausgelöscht wurde. In dem Vortrag werden gegenwärtige Trends der Erinnerung an die Opfer stalinistischer Gewalt in staatlichen Gedenkstätten und Museen Kasachstans unter Bezugnahme der immer populärer werdenden Mankurt-Figur und den postkolonialen Lesarten sowjetischer Gewalt analysiert und vorgestellt. Gerade die Stigmatisierung und Auslöschung der indigenen nomadischen Lebensweise in Kasachstan stellt uns vor die Frage, ob sowjetische Verbrechen als Kolonialverbrechen gelten können. Während diese Frage in der Forschung debattiert wird, ist die Antwort der Gedenkstätten bereits vorhanden: Es handelte sich um eine totalitäre Fremdherrschaft.

Hera Shokohi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Osteuropäische Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Karin Gockel | 08.05.2025