Kolloquium

Thema:
Von Pyritz nach Polynesien. Migrationsgeschichte zwischen familiärer Kettenwanderung und transkontinentaler Diasporabildung.
Referent/-in:
Prof. Dr. Reinhard Wendt
Adresse:
FernUniversität Hagen Neubau KSW, Universitätsstraße 33 Gebäudeteil B, Raum B 0.025
Termin:
04.12.2012

Von Pyritz nach Polynesien. Migrationsgeschichte zwischen familiärer Kettenwanderung und transkontinentaler Diasporabildung

Die Migrationsgeschichte, um die es in diesem Kolloquiumsvortrag gehen soll, beginnt mit dem Müllersohn und Bäckergesellen August Sanft aus Pyritz in Pommern, der Mitte des 19. Jahrhunderts Deutschland verließ. Über die Goldfelder Kaliforniens und Queenslands erreichte er um 1860 die Tonga-Inseln, gelockt von der Aussicht, im boomenden Geschäft mit dem Kokosnussprodukt Kopra mehr finanziellen Erfolg zu haben als im ungewissen Schürfen nach Nuggets. Seine Hoffnungen erfüllten sich. Er kehrte als steinreicher Mann in seine Heimatstadt Pyritz zurück. Schon von den Inseln hatte er in Briefen von den guten Verdienstmöglichkeiten berichtet, die sich in der Südsee boten. Nun konnte er noch anschaulicher und eindrücklicher davon erzählen.

Insgesamt ließen sich nach und nach über zwei bis drei Jahrzehnte 18 Personen ermuntern, wie er und dann seine Nachfolger ihr Glück auf der anderen Seite des Erdballs zu suchen. Es handelte sich um 16 Männer und zwei Frauen, fast alle aus Pyritz und fast alle Verwandte von August Sanft. Von den Männern kehrten nur zwei nach Deutschland zurück, die anderen heirateten Tonganerinnen. Aus der Handvoll Menschen, die einst aus Pyritz nach Polynesien gekommen war, wurde schnell eine große Gruppe, die heute auf viele Tausend Köpfe angewachsen ist. Eine Reihe von Nachfahren lebt weiterhin auf Tonga, ganz wenige kehrten nach Deutschland zurück, etliche siedelten auf anderen pazifischen Inseln und nach Australien über, viele ließen sich in Neuseeland und den USA nieder. Familiäre Kettenwanderung machte aus der kleinen Pyritzer Kerngruppe eine globale Diasporagemeinschaft, die sich von einem Ort aus zerstreute, sich über die Generationen in eine Reihe von Residenzgesellschaften zu integrieren suchte, verschiedenste kulturelle Merkmale annahm, aber auch überlieferte Traditionen pflegte, untereinander Kontakt hielt und den Rückbezug nach Pyritz und Deutschland wahrte.

An meinem Ausgangssample und ihren Nachfahren interessiert mich Ausgestaltung und Wandel ihres transnationalen und –kulturellen Lebens in einem nahezu globalen Raum, das ich in biografiegeschichtlicher Herangehensweise vor allem mit den Konzepten „Diaspora“, „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ zu erfassen, zu beschreiben und zu interpretieren suche. Ziel ist es, Identitätskonstruktionen nachzuvollziehen sowie Selbstbilder und Fremdwahrnehmungen sichtbar zu machen. Auf ihrer Reise durch Raum und Zeit wurde die Gruppe nach und nach als etwas Eigenständiges wahrnehmbar, war bedingt deutsch, tonganisch oder neuseeländisch, war alles, aber keines ganz, ohne darin selbst ein Defizit zu sehen.

In dem Vortrag möchte ich zunächst mein Ausgangssample beschreiben und dann die Kettenwanderung und den Umschlag zur Diasporabildung veranschaulichen. Lediglich zur Diskussion stellen kann ich meine Überlegungen und Erkenntnisse zu den hybriden Lebensentwürfen und –situationen zwischen Ländern und Kulturen, die sich schon mit einigen der ersten Zuwanderer aus Pyritz, vor allem aber mit ihren Nachfahren entwickelten. Einblick geben möchte ich im Vortrag auch in meine Quellen, die aus vielen Tausenden Kopien und Fotos archivalischer Unterlagen und privaten Alben sowie aus umfangreichen Tonaufzeichnungen bestehen und mit deren intensiverer Auswertung ich gerade erst begonnen habe.

08.04.2024