Promotionsprojekt

Brunnlechner, Gerda: Die ‚Genuesische Weltkarte‘ von 1457: Bild und Stimme in einer ambiguen Welt

Projektleitung:
Prof. Dr. Felicitas Schmieder
Status:
abgeschlossen
Laufzeit:
2012-2022

Während des 14./15. Jahrhunderts beschäftigten sich verschiedenartige Kreise intensiv mit geographischen und kartographischen Fragen. Zusätzlich zu den Zeugnissen gelehrter Mönche und Kleriker wird nun das Interesse von weltlichen Gelehrten, Fürsten, Notaren, Händlern, Seefahrern und humanistischen Zirkeln an Karten greifbarer. Entsprechend vielfältig war auch das Spektrum der Karten. So werden in der Forschung die detailreichen Karten meist in verschiedene, als widersprüchlich angesehene Typen wie mappae mundi, Küstenlinienkarten und Ptolemaios-Karten unterschieden. Gleichzeitig zeigt sich eine große, nicht notwendigerweise mit diesen Kartentypen korrelierende Vielfalt der Kartennutzung, etwa als Hilfsmittel bei Studium, Lehre, Planung und auf Reisen, als handelbares Prestige- und Repräsentationsobjekt und als Medium der Vermittlung in Kommunikationsprozessen auch zwischen verschiedenen sozialen Sphären. Angeregt wurde dieses Interesse durch das Anwachsen des Wissens über die Welt. Lateineuropäische Reisende und Gesandte aus fernen Ländern brachten Erfahrungswissen aus Asien und Afrika mit. Frühe Humanisten fanden Handschriften fast vergessener antiker Werke wieder, so dass sich der Blick auf das Autoritätenwissen änderte. Insbesondere die spätestens 1409 fertiggestellte lateinische Übersetzung der ‚Geographia‘ des Alexandriner Astronomen Klaudios Ptolemaios (*um 100 n.Chr. - um 170 n.Chr.) machte in der Zeit Furore und wird in der Forschung als Anstoß einschneidender Veränderungen der Kartographie gesehen.

Alle diese Wissensstränge flossen bei der Erstellung der ‚Genuesischen Weltkarte‘ von 1457 ein. Die Karte wurde handgemalt, drehbar konzipiert und wird heute in der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz verwahrt. Sie ist ca. 40 x 80 cm groß, zeigt die Erdteile Europa, Asien und Afrika in einem mandelförmigen Rahmen, wurde mit einer Vielzahl von Bildern und lateinischen Texten ausgestattet und mit einem Netz aus schwarzen und roten Linien überzogen. Weder Kartenmacher noch Herstellungsort der Karte sind bekannt. Auch die zeitnahe Rezeption liegt im Dunkeln, fassbar ist nur, dass sie ab Ende des 16. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich Teil einer Sammlung der Medici-Großherzöge war. Bisher wurde diese Karte meist aus der Perspektive des Fortschritts heraus untersucht, als Argumentationshilfe für den Weg nach Indien Richtung Westen, als Versuch die neuen Erkenntnisse aus dem Osten in das bestehende Weltbild zu integrieren und als frühe Umsetzung antiker Projektionstheorien, wobei umstritten blieb, an welchen antiken Autoren sich die Kartenmacher methodisch orientierten.

In meiner Dissertation nehme ich die Funktion der Karte als raumkonstituierendes Kommunikationsmedium in den Blick. Dafür eignet sich die Karte besonders, weil ihre Kartenmacher selbst die Existenz widersprüchlicher Informationen zu verschiedenen Themen ausdrücklich ansprachen. Mich interessiert besonders der Aspekt der Vermittlung von Inhalten. Damit wird der Fokus auf Fragen nach den zeitgenössischen Vorstellungen gelenkt, die potenziell mit der Karte verbunden wurden. Welches Bild der Welt, welche Botschaften wurden der Karte bewusst oder unbewusst eingeschrieben und wie konnte sie verstanden werden? Zwischen welchen Dimensionen stellten sich die Zeitgenossen die Vermittlung vor: also etwa allein zwischen verschiedenen Menschen oder auch zwischen menschlichem Verstand und Natur sowie zwischen Mensch und Gott?

Um diesen Fragen nachgehen zu können, habe ich zunächst aus der Forschungsliteratur unter Sichtung der Vergleichskarten (detaillierte Karten größerer Gebiete, die im 14./15. Jahrhundert im nördlichen Mittelmeerraum entstanden sind, aus über 130 Archivsignaturen, viele davon mit mehr als einer Karte) ein methodisches Grundlagengerüst über das Erstellen von Karten im 14./15. Jahrhundert entwickelt:

  • Karten waren nicht nur ein Medium zum Speichern, Ordnen und Übertragen von neutralem Wissen. Sie ermöglichten es, Meinungen in Äußerungen umzusetzen, deren Verständnis vom jeweiligen Betrachter abhing. Die Kartenbilder konnten Handlungsoptionen aufzeigen, als Botschaften und als Aufruf zu Handlungen verstanden werden.
  • In diesem Prozess, also sowohl bei der Umsetzung als auch bei der Rezeption der Äußerungen, standen die Interessen der Beteiligten in Wechselwirkung mit den Bedingungen des Mediums Karte, ein Zusammenspiel das sowohl strukturgeleitete als auch strukturbildende Züge trug.
  • Die Beteiligten beschränkten sich nicht auf einen einzelnen ‚Kartenmacher‘, vielmehr wirkten mehrere Personen zusammen: Kartenersteller, wie Kartographen und andere Spezialisten, sowie intendierte oder antizipierte Rezipienten, etwa Auftraggeber und potenzielle Käufer. In diesem Sinn fasse ich entgegen dem in der Forschung üblichen Vorgehen die Ersteller- und die zeitnahe Rezeptionsseite zusammen mit dem Plural des Begriffs ‚Kartenmacher‘.
  • Die Bedingungen des Mediums Karte zwangen die Kartenmacher zu Entscheidungen, ob, wie, wo und in welchem zeitlichen Zusammenhang sie ein ihnen bekanntes Element repräsentierten. Durch die räumliche und zeitliche Verortung und die Ausgestaltung der einzelnen Kartenelemente entstanden sowohl bewusst herbeigeführte als auch dem Medium geschuldete Relationen, die potenzielle, kontextabhängige Raumwahrnehmungen ermöglichten.
  • Die Grenzen und Möglichkeiten des Kartenmachens wurden von sozialen, politischen, kulturellen und individuellen Faktoren bestimmt, wobei die Praxis des Kartenmachens diese Strukturen verstärken, aber auch verändern konnte.
  • Karten bedurften zumeist ergänzender, schriftlicher, bildlicher oder mündlicher Erläuterungen, um verstanden zu werden. Ihre Rezeption erfolgte daher oft im Rahmen oraler Kommunikation.
  • Die in der Forschung übliche Unterscheidung der Karten nach Kartentypen ist für die behandelte Fragestellung nicht zielführend, da die Kartentypen zeitgenössisch begrifflich nicht eindeutig unterschieden wurden und die einzelnen Typen hohe Durchlässigkeit aufweisen.
  • Die in der Forschung übliche Unterscheidung der Karten nach regional abgegrenzten ‚kartographischen Schulen‘ ist angesichts der regional übergreifenden Zusammenarbeit und der Reisetätigkeit verschiedener Kartenmacher für die behandelte Fragestellung nicht zielführend.

Auf Basis dieses Grundlagengerüsts habe ich angelehnt an die soziologische Theorie von Martina Löw zur Konstitution von Raum ein Konzept zur Analyse mittelalterlicher Karten entworfen:

  • Die Analyse erfolgt in drei Schritten:
  1. Die Annäherung an den Handlungsraum der Kartenmacher, also deren Möglichkeiten und Grenzen, als struktureller Hintergrund der beteiligten Interessen.
    Hier wird Arbeitsweise und Hintergrund der Kartenmacher beleuchtet.
  2. Die Analyse der von medialen und interessengeleiteten Bedingungen bestimmten raumzeitlichen Strukturen des Kartenbilds, gefasst als Wechselspiel der bewussten oder unbewussten Platzierungen der einzelnen Kartenelemente und der potenziellen, kontextabhängigen Synthesen räumlicher und zeitlicher Relationen.
    Es gilt zunächst zeitgenössische Deutungen der einzelnen Kartenelemente und im nächsten Schritt der potenziellen Synthesen herauszuarbeiten.
  3. Der Bezug potenzieller Synthesen auf konkrete zeitgenössische Diskurse und damit die Verschränkung von Handlungsraum und Kartenbild.
    Zu diesem Zweck werden einige Synthesen vorgestellt und dargelegt, inwieweit diese als zum Teil handlungsanleitend gedachte Diskursbeiträge verstanden werden konnten.

Aus dem Abgleich mit den Vergleichskarten konnte ich herausarbeiten, dass sich die ‚Genuesische Weltkarte‘ in mehrfacher Weise vom Kanon dieser Karten abhob. Folgende Thesen zur Arbeitsweise ihrer Kartenmacher lassen sich formulieren:

  • Die Kartenmacher konzipierten die ‚Genuesische Weltkarte‘ auf Basis ptolemäischer Daten, was nach derzeitigem Stand ein Novum für alleinstehende Weltkarte ist. Für das einzigartige geometrische Liniensystem der ‚Genuesischen Weltkarte‘ verbanden sie Elemente eines ptolemäischen Koordinatensystems mit Elementen der Kompasslinien auf Küstenlinienkarten.
  • Sie nutzen ungewöhnliche Quellen. So konnte ich erstmals einige Quellen identifizieren, die ansonsten nicht als Quellen von Kartenmachern bekannt sind, wie der Brief des Priesterkönig Johannes, einer legendären Herrscherfigur im Osten, oder das toskanische Gedicht ‚La sfera‘ (vor 1435) der Gebrüder Dati. Andere, lange bekannte Quellen der Kartenmacher waren erstaunlich aktuell, wie die erst 1448 fertiggestellte Abhandlung ‚De varietate fortunae‘ des päpstlichen Sekretärs Poggio Bracciolini.
  • Sie präsentierten Teile des Wissens auf der Karte diskursiv. So reflektierten sie ausdrücklich ihren eigenen Umgang mit Quellen und wiesen auf Widersprüche in ihren Quellen hin, was in ähnlicher Weise nur auf sehr wenigen Vergleichskarten vorkommt.
  • Sie verarbeiten das Wissen auf innovative Art und Weise, etwa indem sie Elemente aus verschiedenen Wissenssträngen miteinander verbanden, bekannte Motive in ungewöhnliche Zusammenhänge stellten und uneindeutige Hinweise streuten.
  • Sie arbeiteten mit Motiven, die von den Vergleichskarten nicht bekannt sind. Zudem weicht die Ausgestaltung üblicher und unüblicher Kartenelemente textlich, bildlich oder die Verortung betreffend von den Vergleichskarten ab.

Aus der oben beschriebenen Analyse konnten in Bezug auf die ‚Genuesische Weltkarte‘ im Ergebnis folgende kulturhistorische Thesen erarbeitet werden:

  • Zu den Kartenmachern:
    • Die Kartenmacher der ‚Genuesischen Weltkarte‘ waren keine konventionellen Ersteller von Küstenlinienkarten oder Serienkarten. Sie waren humanistisch interessiert und entstammten möglicherweise dem Umfeld der Kurie, des Konzils von Ferrara-Florenz (1438-1445) beziehungsweise des Poggio Bracciolini. Sie gingen innovativ vor, waren mathematisch gebildet, aber weder an komplexen naturwissenschaftlichen und theoretischen Problemen interessiert.
  • Zu den Strukturen des Kartenbilds:
    • Das Kartenbild war keineswegs überwiegend auf topographische Genauigkeit fokussiert. Vielmehr zeigt es ein raumzeitliches Bild der Welt, das als kohärente heilsgeschichtliche Erzählung verstanden werden konnte. Es transportiert die Vorstellung einer sphärisch, zeitlich und räumlich endlichen Welt mit einer den Menschen nur eingeschränkt zugänglichen Erde.
    • Die geometrischen Linien konnten potenziell neue Spielräume für Deutungen eröffnen: Zum einen durch die Rasterungen respektive Auslassungen bestimmter Gebiete, zum anderen als an den klösterlichen Horen angelehnte Einteilung des Tagesverlaufs der Oikumene.
  • Zur Vermittlung:
    • Das Kartenbild konnte als politische Stimme verstanden werden. Denn das Zusammenspiel einiger Kartenelemente konnte als Handlungsaufforderung an bestimmte soziale Gruppen gelesen werden, etwa zum gemeinsamen Kreuzzug gegen die Türken und zur persönlichen Läuterung.
    • Das Kartenbild präsentiert ambigue Deutungsangebote. Die Kartenmacher suchten keine eindeutigen Lösungen oder Entweder-oder-Entscheidungen, vielmehr verstanden sie vielschichtige Ergebnisse als Teil des Erkenntnisprozesses.
    • Die Karte konnte als Vermittler zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Mensch und Gott verstanden werden. Darauf verweist der Wahrheitsanspruch der Kartenmacher, der mandelförmige Rahmen und die Ambiguität der Karte, die den Betrachter dabei unterstützte, die Welt in ihrer Einbindung in den Kosmos und die eigene Position innerhalb der göttlichen Schöpfung besser zu erfassen.
    • Der Erstellungsprozess mit dem Detaillieren und Erfassen weit entfernter Regionen und der verschiedenen Dimensionen der Welt war vermutlich auch für die Kartenmacher selbst mit Erkenntnisprozessen verbunden, angestoßen durch das in der Entwicklung befindliche Zusammenwirken von Bild, Schrift und Verortung auf der Karte.