Promotionsprojekt

Hüsing, Annika: Wipo (ca. 1000 bis ca. 1046) als Geschichtsschreiber

Projektleitung:
Prof. Dr. Felicitas Schmieder
Mitarbeitende:
Annika Hüsing
Status:
abgeschlossen

Hüsing, Annika (2012) Wipo (ca. 1000 bis ca. 1046) als Geschichtsschreiber? Dissertation, FernUniversität Hagen.

Email: a.huesing@web.de

Mit dem Tod Heinrichs II. im Jahr 1024 erlosch das liudolfingische Herrscherhaus der Ottonen, da der Kaiser ohne Nachkommen geblieben war. Heinrichs Stelle wurde von Konrad II., Begründer der Dynastie der Salier, eingenommen. Er wurde am 4. September 1024 zum König gewählt und regierte bis zu seinem Tod am 4. Juni 1039. Mehrere Jahre nach dem Ableben des Kaisers behandelte ein Mitglied seiner Hofkapelle, der Priester Wipo, die Regierungszeit Konrads II. in einer umfangreichen Schrift, den Gesta Chuonradi II. Imperatoris.

Diese Quelle hat seit dem 19. Jahrhundert in der Fachliteratur so weite Beachtung gefunden, dass sie bis in unsere Tage als regelrechte "Fundgrube" für die verschiedensten Verwendungszwecke erscheint. Allerdings wird diese Bezugnahme auf den Inhalt der Gesta Chuonradi zu Recht fast immer von dem warnenden Hinweis begleitet, dass Wipos Text eine mit einer bestimmten Intention zusammengefügte Stoffkomposition darstellt:Die Gesta Chuonradi enthalten sowohl Auslassungen als auch erwiesenermaßen nicht der Realität entlehnte Szenen, sorgfältig eingearbeitet in ein Gerüst stilistischer Anklänge und Zitate aus Heiliger Schrift, antiker Literatur und deutschem Dichtungsgut. Im Rahmen meiner Dissertation will ich diese Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt der von Johannes Fried beschriebenen Verformung schriftlich festgehaltener Ereignisse in mittelalterlichen Geschichtswerken durch primäre und sekundäre Faktoren betrachten.

Die Erkenntnis, das nicht alles, was Wipo berichtet, uneingeschränkt als realitätsgetreue Wiedergabe von Tatsachen aufzufassen ist, hat in der Forschung schon früh die Frage nach der Absicht, die der Priester mit der Niederschrift der Gesta Chuonradi verfolgt hat, aufgeworfen. Im Allgemeinen bewegt sich die Einschätzung zwischen der Interpretation, Wipo habe in der Funktion des Mahners und geistlichen Beraters moralisch-pädagogische Ziele gegenüber Heinrich III. verfolgtund der Auffassung, Wipo habe Heinrich III. konkrete staatspolitische Ratschläge erteilen wollen.Häufig wird der Standpunkt vertreten, der besondere Wert der Gesta Chuonradi läge darin, dass sie Einblick in die ideelle Welt Heinrichs III. gewährten. Einige Autoren sind der Ansicht, dass Wipo die Gesta Chuonradi in "rühmender Absicht" verfasst habe, andere bezeichnen ihn als "Hofhistoriograph" oder "Geschichtsschreiber".

In meiner Dissertation will ich Wipo als Geschichtsschreiber betrachten, wobei "Geschichtsschreiber" in Form einer sehr weiten Arbeitsdefinition bestimmt sein soll als Person, die in schriftlicher Form über Individuen, Gruppen und Ereignisse der Vergangenheit berichtet. Diese stark entgrenzte Definition beansprucht nur eingeschränkte Gültigkeit: In dem Moment, wo die Möglichkeit, sich schriftlich in differenzierter Form zu äußern, in größerem Ausmaß in einer Gesellschaft gegeben ist, kann nicht mehr jeder als "Geschichtsschreiber" gelten, der Wissen über zurückliegende Ereignisse verschriftlicht. Unter solchen Gegebenheiten müssen Präzisierungen und Einschränkungen vorgenommen werden, ansonsten steigert sich die Zahl der potentiellen Schreiber von Geschichte in Uferlose. Eine eingrenzende Definition wäre z.B. "Personen, die hauptberuflich damit befasst sind, in schriftlicher Form über Personen und Ereignisse der Vergangenheit zu berichten."

Für die Zeit, in der Wipo schrieb, ist eine solche Spezifikation jedoch nicht nötig. Ab dem 11. Jahrhundert nahm die Schriftlichkeit zwar sowohl hinsichtlich der Zahl der Texte als auch der Vielfalt ihrer Formen stetig zu, dennoch blieben weit über 90% der Bevölkerung davon ausgeschlossen. Schreiben war im 11. Jahrhundert des mittelalterlichen Europa eine besondere Fähigkeit, die nur von einer Minderheit beherrscht und von einer noch kleineren Minderheit dazu genutzt wurde, Vergangenes festzuhalten. Die Gefahr der uferlosen Anwendbarkeit der oben umrissenen Arbeitsdefinition ist für den hier behandelten Zeitraum somit nicht gegeben.

Besondere Fähigkeiten können, dadurch dass sie asymmetrische Verhältnisse zwischen Akteuren schaffen, Macht verleihen. "Macht" ist, einer bekannten Definition Max Webers nach, "...jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." Webers Gebrauch des Wortes "Chance" führt vor Augen, dass "Macht" sich aus zahlreichen Quellen speisen kann, die Verfügung über eine dieser Quellen jedoch per se noch keine Garantie für die tatsächliche Durchsetzung der eigenen Interessen bzw. der Interessen der Bezugsgruppe oder des Anführers, der/dem man sich angeschlossen hat, bedeutet, sondern nur ihre prinzipielle Möglichkeit.

Eine Gesellschaft ohne Kampf um Macht gibt es nicht - diese Aussage gilt für das Mittelalter genauso wie für die Gegenwart. Geändert haben sich allein die Bedingungen der Macht: Die Fähigkeit zu schreiben ist heute, zumindest im westlichen Europa, keine potentielle Quelle der Macht mehr, auch wenn sie angesichts des Bildungsverfalls in großen Teilen der Industriegesellschaften auf bestem Weg ist, wieder eine zu werden. Geblieben ist die Grundkonstellation, dass Quellen möglicher Macht bei ihren Trägern kontinuierlich Versuche generieren, sie zur Erringung tatsächlicher Macht zu nutzen. Wo immer Menschen soziale Ordnung stiften, wird diese fortlaufend durch Auseinandersetzungen um Einfluss sowohl stabilisiert als auch destabilisiert.

Aus der Gesamtheit solcher Versuche ergibt sich ein Netz ineinander verflochtener Bemühungen, bestimmte Interessen gegenüber anderen durchzusetzen. Wipo stand als schriftkundiger Hofkaplan zweier Kaiser, von denen der eine, wenn man dem Fortsetzer des Chronicon Novalese glauben darf, weder schreiben noch lesen konnte, an einem Knotenpunkt in diesem Netz. In meiner Dissertation will ich Wipos Tätigkeit als Geschichtsschreiber in Beziehung zu seiner Platzierung an diesem Knotenpunkt setzen, um auf diese Weise nähere Erkenntnisse über die Beziehung zwischen Kampf um Macht und mittelalterlicher Geschichtsschreibung zu gewinnen. Diese Erkenntnisse sollen dann zum Verständnis anderer mittelalterlicher Geschichtsschreiber bzw. deren Werke sowie der Zeit, in der sie arbeiteten, beitragen.

Der Priester hat sich, soweit sich dies aus der Überlieferungslage erschließen lässt, sein ganzes Leben lang in eher kürzeren, der (Gebrauchs-)Lyrik zuzurechnenden Werken geäußert, die größtenteils pädagogisch-preisender Natur waren. Im, für damalige Verhältnisse, reifen Alter von 40 bis 50 Jahren nahm Wipo, man möchte sagen "plötzlich", mit der Abfassung der Gesta Chuonradi das Unterfangen in Angriff, im Rahmen einer für ihn neuen literarischen Form (Prosabericht), über ein von ihm bisher kaum behandeltes Thema (Ereignisse der Vergangenheit), in einer für ihn ungewöhnlichen Länge zu schreiben.

Ausgehend von Überlegungen der causa scribendi Forschung, dass mittelalterliche Geschichtswerke weniger Auskunft über die Zeit, von der sie berichten, geben, sondern mehr über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, will ich Wipos geschichtsschreibende Tätigkeit als aktive, auf Interessenwahrnehmung zielende Handlung deuten, die im Kontext eines Umfeldes zu verstehen ist, das an Auseinandersetzungen reich war: Wipo bewegte sich nicht nur in höchsten Kreisen des Hofes, sondern hatte auch Kontakt zur gehobenen Geistlichkeit. Meine Dissertation soll aufzeigen, wie und warum der Priester ausgerechnet als Geschichtsschreiber an diesen Auseinandersetzungen teilnahm, um damit letztendlich darzulegen, welche Funktion Geschichtsschreibung beim Kampf um Macht einnehmen kann, sodass ein differenzierteres Verständnis auch anderer mittelalterlicher Geschichtswerke möglich wird.

Irmgard Hartenstein | 08.04.2024