Tagung „Autobiographie und Zeitgeschichte“ am 25./26.6.2010

Alle autobiographischen Texte sind in dem Sinne historisch als sie sich auf geschichtliche Kontexte beziehen – sie sind in dem Sinne notwendigerweise literarisch, als sich die Komplexität und das Durcheinander des menschlichen Lebens nur in erzählerischer Form und mit Hilfe narrativer Strategien ordnen lassen. Vor dem Hintergrund zunehmender „(Auto-)Bio­graphisierungen von Erleben und Handeln“ erfüllen Autobiographien Aufgaben im Kommunikations­haushalt von Gesellschaften.

Die Tagung widmet sich dem Phänomen „Autobiographie“ aus der Perspektive unterschiedlicher Fächer und im Hinblick auf Theorie und Realgeschichte. Sie stellt u.a. folgende Fragen:

  • In welchem Zusammenhang stehen autobiographische Selbsthistorisierungen und zeitgeschichtliche Erfahrungen? Wie ist das Verhältnis zwischen autobiographischer Selbstpräsentation und zeitgeschichtlicher Selbsthistorisierung in unterschiedlichen Erinnerungskontexten zu bestimmen?
  • Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen kollektiver (sozialer, generationeller, politisch-weltanschaulicher) und individuell-autographischer Sinnkonstruktion? (Differenz der Narrative?)
  • In welchem Verhältnis stehen autobiographisches Geschichtsbewusstsein und professionelle Geschichtsschreibung? Wie reagierte und reagiert die Geschichtswissenschaft auf autobiographisch vermittelte Geschichtsbilder?
  • Wie gestaltet sich das Verhältnis von autobiographischem Schreiben und Erinnerungskultur? Welcher Stellenwert kommt autobiographischen Schriften innerhalb kommunikativer Gedächtnisbildungsprozesse im Rahmen historischer und gegenwärtiger Erinnerungskulturen zu?
  • In welchem Verhältnis stehen Autobiographie und Geschichtspolitik?
  • In welchem Verhältnis stehen publizierte und nicht-publizierte Autobiographien zueinander, welche Folgerungen ergeben sich daraus?
  • Wie reagieren die Literaturwissenschaften auf eine zunehmende Präsenz von autobiographischen Memoiren in der klassischen Ich-Form?
  • Inwieweit lassen sich Autobiographien kommunikationswissenschaftlich verorten?


Tagungsbericht „Autobiographie und Zeitgeschichte“

von Carsten Heinze (Hamburg)

Am 25. und 26. Juni 2010 fand im Institut Geschichte und Biographie der Fakultät Sozial- und Kulturwissenschaften der FernUniversität Hagen eine interdisziplinär ausgerichtete Tagung zum Thema „Autobiographie und Zeitgeschichte“ statt. Fachvertreter aus den Geschichtswissenschaften, den Literaturwissenschaften sowie der Soziologie hatten sich zusammen gefunden, um über Stand und Perspektiven der Autobiographieforschung aus ihren disziplinären Perspektiven zu berichten. Sowohl der historische „Quellenwert“ wie auch die Frage nach dem Adressaten als Leser einer Autobiographie stellten einen wichtigen Aspekt in allen Referaten dar. Es kristallisierte sich heraus, dass Autobiographien in hohem Maße gegenwartsabhängige Erzählkonstruktionen darstellen, die nicht nur sozialkommunikativ angelegt sind, sondern selbst weitere Anschlusskommunikationen nach sich ziehen. Dieser Aspekt erschien vor allem im Horizont einer öffentlichkeitswirksamen Verständigung und Auseinandersetzung über kollektive Vergangenheiten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert, einer „Zeitgeschichte als Streitgeschichte“, von hoher Bedeutung.

Der theoretische Fokus der Tagung lag auf dem komplexen Zusammenhang zwischen zeitgeschichtlichen und erinnerungskulturellen Erfahrungskontexten und ihren schriftlichen autobiographischen Ausdeutungen als sozialkommunikative Praxis, sowie den unterschiedlichen methodologischen und theoretischen Zugängen zu Fragen autobiographischen Schreibens. Der empirische Fokus konzentrierte sich auf die deutsch-deutsche Verarbeitung lebensgeschichtlicher Umbruchphasen in Autobiographien nach 1945 und nach 1989.

Der erste Tag, der drei Referaten aus den Geschichtswissenschaften, den Literaturwissenschaften und der Soziologie zum Stand und den Perspektiven der Autobiographie aus fachdisziplinärer Sicht gewidmet war, wurde durch eine kurze Themeneinführung des Historikers Peter Brandt eröffnet. Er ging auf die verschiedenen Aspekte autobiographischen Schreibens im Horizont zeitgeschichtlicher Erfahrungsverarbeitungen ein, und fasste die wesentlichen Schwerpunktsetzungen der Tagung zusammen. Er hob die Autobiographie als eigene Quelle historischer Forschungen hervor, ging jedoch auch auf die erkenntnistheoretische Problematik im Umgang mit dieser Gattung hinsichtlich ihres Aussagewerts für den Historiker ein.

Der Anglizist und Historiker Volker Depkat kritisierte den traditionellen Zugang zur literarischen Gattung Autobiographie in den Geschichtswissenschaften scharf, und warf diesen einen recht naiven und methodisch kaum reflektierten Umgang mit diesem literarischen Medium der öffentlichen Selbstdarstellung vor. Seiner Auffassung nach sei trotz einschlägiger Debatten und bis auf wenige Ausnahmen der „linguistic turn“ bislang nicht in den Geschichtswissenschaften angekommen. Dies habe zur Folge, dass wesentliche erkenntnistheoretische Potentiale der Autobiographie, die weniger auf Objektivität und Wahrheit des Dargestellten abzielten, für die Geschichtswissenschaften bisher nicht erkannt worden seien. Depkat versuchte demgegenüber das zeitgeschichtliche Verständigungsmoment autobiographischen Schreibens, das zwar auf eine außertextuelle Wirklichkeit verweise, diese aber immer nur als intentionale und subjektiv eingefärbte Konstruktion einer Vergangenheit aus der Gegenwart heraus konzeptualisieren könne, herauszustellen. Seine Position grenzte sich damit von rein textuellen Zugängen zur Autobiographie zugunsten einer weiter gefassten Problematisierung des Referenzverhältnisses von Text und kommunikativen Umwelten im Horizont zeitgeschichtlicher Diskurse ab.

Die Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf sprach über die innertextuellen und ästhetischen Ausdrucksformen autobiographischen Schreibens und wies auf, dass die erkenntnistheoretischen Diskussionen der anderen Fachbereiche in Bezug auf die Autobiographie und ihre außertextuellen Kontexte zurzeit in den Literaturwissenschaften kaum noch eine Rolle spielten. Vielmehr befände man sich mittlerweile in einer post-poststrukturalistischen Phase. Sie versuchte aber dennoch, die Vorbehalte anderer Fachdisziplinen gegenüber der Autobiographie und ihrer fiktionalen Elemente zu zerstreuen. Sie stellte deutlich heraus, dass die Referenzfrage in den Literaturwissenschaften zugunsten der Frage ästhetischer Gestaltungsformen in den Hintergrund getreten sei – ohne diese damit jedoch als überholt abzuweisen. Ebenso konzedierte Wagner-Egelhaaf, dass bislang eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit populären Autobiographien weitgehend fehle – die zumindest einen wesentlichen Teil des autobiographischen Buchmarkts im Horizont zeitgeschichtlicher Verarbeitung ausmachen. Jedoch betonte sie am Beispiel von Günter Grass‘ vieldiskutierter Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ das primär ästhetische Interesse am literarischen Text. Sie stellte dann ihr Konzept der Autofiktion vor und ging vor allem auf ein DFG-Projekt ein, das sich mit der Frage von räumlichen (raum-/zeitlichen) Darstellungen in autobiographischen Erzählungen beschäftige – und bot so einen interessanten Diskussionspunkt für die anderen Fachdisziplinen.

Carsten Heinze ging zunächst auf einige Aspekte der soziologischen Biographieforschung ein, und versuchte, erkenntnistheoretische und methodische Prämissen der Biographieforschung, deren Quelle zumeist das narrative Interview ist, gegenüber auto-biographischen Konzepten abzugrenzen. Seine Kritik zielte v. a. auf das bisherige Fehlen eines soziologischen Ansatzes bzw. einer soziologischen Methodologie hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Autobiographien als selbstverfassten Schriftmedien – hier überschnitten sich seine Befunde mit denen des Historikers Volker Depkat. Zur Begründung der autobiographischen Kommunikationssituation ging Heinze zunächst auf den Begriff der kommunikativen Gattung ein, die einen unmittelbaren Kommunikationsrahmen für autobiographische Geschichtsausdeutungen zwischen einem Autor und einem Leser konstituieren. Vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Erfahrungsverarbeitungen und erinnerungskultureller Einschreibungen in das kollektive Gedächtnis durch Autobiographien versuchte Heinze dann, den sozialphänomenologisch geprägten Begriff der Sozialkommunikation ins Spiel zu bringen, um die Intentionalität und Gegenwartsabhängigkeit autobiographischen Schreibens im Rahmen soziologischer Kommunikationstheorien zu fassen. Durch diesen Schritt erhoffte sich der Referent, autobiographisches Schreiben an erinnerungskulturelle und zeitgeschichtliche Diskurse anschlussfähig zu machen.

Als Abschluss des ersten Tages war der Journalist Hans-Dieter Schütt im Rahmen des „Lüdenscheider Gesprächs“ am Institut zu Gast. Er las aus seinem neuen Buch „Glücklich beschädigt: Republikflucht nach dem Ende der DDR“. Seine autobiographischen Reflexionen stellen eine kritische Auseinandersetzung mit seiner lebensgeschichtlichen Vergangenheit in der DDR als Chefredakteur der „Neuen Welt“ dar. Anschließend beantwortete Schütt viele kritische Nachfragen aus dem Publikum hinsichtlich Schuld und Rechtfertigung seines früheren (politischen) Handelns im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit.

Der zweite Tag war autobiographischen Deutungen von Umbrucherfahrungen nach Kriegsende 1945 und der Wende nach 1989 gewidmet. Dieser wurde von dem Historiker Edgar Liebmann eröffnet, der für Hans-Edwin Friedrich, der kurzfristig absagen musste, eingesprungen war. Liebmann referierte aus seinem Dissertationsprojekt zur Autobiographie des Zeithistorikers Hans Herzfeld und problematisierte die „Quellenwirklichkeit“ seiner teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten autobiographischen Schriften. Liebmanns Ausführungen folgten der Frage, was passiert, wenn der Zeithistoriker selbst zum Zeitzeugen wird. Er wies überzeugend auf, dass Herzfelds zeitgeschichtliche Erfahrungen stark intentional von eigenen Überzeugungen und Ansichten geprägt seien, und demnach dem Historiker im Umgang mit sich selbst keine größere Distanz und Objektivität zuzumessen sei, wie oftmals behauptet wird. Auch bei ihm tauchte die Frage nach dem adressierten Leser an verschiedenen Stellen immer wieder auf.

Der Historiker und Institutsleiter Arthur Schlegelmilch ging in seinem Referat über politische Umbrucherfahrungen nach 1945 auf vier sozialdemokratische Politiker (Germer, Friedensburg, Kniffke, Lemmer) und ihre autobiographischen Aufzeichnungen im Horizont zeitgeschichtlicher Kontexte ein. Neben einigen subjektiv perspektivierten, historischen Details waren v. a. die identifizierbaren Motive und Intentionen der autobiographischen Kommunikation für den Rahmen der Tagung von Interesse: So verfolgte der ehemals stellvertretende Bürgermeister von Berlin, Ferdinand Friedensburg, mit seinen autobiographischen Aufzeichnungen ein intergenerationales Gespräch, wodurch der sozialkommunikative Charakter seiner Autobiographie hervorgehoben wurde. Auch die anderen Autobiographien wiesen einen hohen sozialkommunikativen Bezugsrahmen auf, der durch die stilistische Verwendung der direkten Rede in der autobiographischen Erzählung noch unterstrichen wurde. Bei allen Autoren zeigten gerade die Zeitumstände der Schreibsituation und die darin eingeschriebene politische Haltung die Gegenwartsabhängigkeit der eigenen lebens- und zeitgeschichtlichen Darstellungen.

Die Literaturwissenschaftlerin Valeska Steinig setzte sich in ihrem Beitrag mit Künstlerautobiographien der Wendezeit aus der ehemaligen DDR auseinander. Dabei ging sie auf den Begriff des „Krisenbewusstseins“ ein, der im 20. Jahrhundert eine weit zurückreichende Tradition hat, und immer wieder Motiv und Anstoß autobiographischer Selbstauseinandersetzungen mit lebens- und zeitgeschichtlichen Erfahrungen war. Steinig arbeitete die kommunikativen Aspekte der autobiographischen Lebensdeutungen im Horizont zeitgeschichtlicher Erfahrungen an den empirischen Beispielen Hermann Kants, Günter de Bruyns und Heiner Müllers heraus. Sie differenzierte überzeugend zwischen der zeitgeschichtlichen Person des Autors als politischem Subjekt einer Aussage, und dem poetischen Subjekt, das sich durch größere narrative Gestaltungsspielräume und der Freiheit des literarischen Ausdrucks zeitgeschichtlichen Erfahrungen auf eine ganz andere Weise zu nähern in der Lage sei. Steinig wies damit auf, dass autobiographische Literatur in einem weiteren Sinne aufschlussreiche Erkenntnisse über die Verarbeitung zeitgeschichtlicher Erfahrungen geben kann.

Die Zeithistorikern Christiane Lahusen konstatierte einen Erinnerungsboom auf dem Buchmarkt seit den 1990er Jahren. Sie wies vor allem auf die Vielzahl autobiographischer Schriften im Umfeld der ehemaligen politischen Funktionäre der DDR hin. Autobiographien wurden auch vor diesem Hintergrund als sozialkommunikative Form der öffentlichen Selbstauseinandersetzung konzeptualisiert. Lahusen problematisierte in ihrem Vortrag die zeitgeschichtlichen Darstellungen in Autobiographien, die im Horizont der Auseinandersetzungen um das Erbe der DDR-Geschichte eine besondere Brisanz erhielten. Anhand einiger empirischer Beispiele ehemaliger DDR-Wissenschaftler und –Intellektueller wie etwa Fritz Klein wies sie auf, welche narrativen Strategien diese zur Rechtfertigung und Darstellung der eigenen historischen Läuterung in ihren Autobiographien verfolgten. Vor allem die autobiographische Differenzierung von Privatgeschichte gegenüber der öffentlichen Geschichte wurde dabei von ihr in die Diskussion gebracht.

Der letzte Vortrag kam von Ilse Fischer aus der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie vermittelte in ihrem Vortrag einen Einblick in verschiedene Lebensverläufe ausgewählter Sozialdemokraten und Gewerkschafter, wobei sie sich auf veröffentlichte wie unveröffentlichte autobiographische Selbstbeschreibungen bezog. Im Mittelpunkt ihres Vortrags stand dabei die Rekonstruktion erlebter Lebens- und Zeitgeschichte in gewerkschaftlicher und parteipolitischer Perspektive.

Die einzelnen Tagungsreferate werden voraussichtlich Anfang 2011 in einem (doppelten) Sonderband der Zeitschrift BIOS veröffentlicht.

Tagungsbericht „Autobiographie und Zeitgeschichte“

von Julia Sydow (Bonn/Fernuniversität Hagen)

Am 25. und 26. Juni 2010 fand im Institut Geschichte und Biographie der FernUniversität Hagen in Lüdenscheid eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte, interdisziplinär ausgerichtete Tagung zum Thema „Autobiographie und Zeitgeschichte“ statt. Fachvertreter aus der Geschichtswissenschaft, der Literatur­wissenschaft sowie der Soziologie hatten sich zusammen gefunden, um über Stand und Perspektiven der Autobiographieforschung aus ihren disziplinären Perspektiven zu berichten.

Eröffnet wurde die Tagung von Peter Brandt (Hagen), der in einem einleitenden Vortrag die Referenten der unterschiedlichen Disziplinen sowie die leitenden Themenstellungen der Tagung vorstellte. Darunter die Fragen nach dem Stellenwert autobiographischer Schriften innerhalb kommunikativer Gedächtnisbildungsprozesse, nach den Beziehungen und Wechselwirkungen von autobiographischer Selbstpräsentation und zeitgeschichtlicher Selbsthistorisierung sowie nach dem Verhältnis zwischen kollektiver und individuell-autographischer Sinnkonstruktion.

Die folgenden drei Vorträge lieferten einen Überblick über Stand und Perspektiven der Autobiographieforschung aus Sicht der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Soziologie. Kritik am Stand der historischen Quellenkunde übte zunächst Volker Depkat (Regensburg). Diese sei nicht mehr zeitgemäß und verfüge namentlich über keine hinreichenden Instrumentarien zur Erfassung narrativer Strukturen. Hieran anschließend lieferte Depkat Ansätze zu einer text- und kommunikationspragmatisch erneuerten Quellenkunde der Autobiographie, bei der er neben der Textualität den Charakter der Autobiographie als Akt der sozialen Kommuni­kation besonders hervorhob.

Den zweiten Vortrag hielt die Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf (Münster). Ihren Ausgangspunkt bildete der unterschiedliche Erkenntnishorizont der Geschichts- und Literaturwissenschaft. Beide Fächer hätten zwar nicht dasselbe Primärmotiv, könnten sich aber gut ergänzen. Der Geschichtswissenschaft legte sie nahe, sich der subjektiven Seite der Erinnerung als einer Form der Erkenntnisbildung zu öffnen und sich auch den gattungsspezifischen Formungen von Texten zuzuwenden. Als spezifisches und sozusagen neu entdecktes Gestaltungselement benannte die Referentin den räumlichen Bezug der autobiographischen Erinnerung und stellte die Frage nach der Relevanz räumlicher Wahrnehmung und Darstellung für das autobiographische „Ich“, das sich im Übrigen auch durch fiktionale Elemente konstituieren würde.

Zum Abschluss der Theoriesektion referierte Carsten Heinze (Hamburg) über die Autobiographieforschung in der Soziologie und äußerte sich zu den interdisziplinären Perspektiven. Schreiben werde in der Soziologie als soziales Handeln aufgefasst, demnach handele es sich bei der Autobiographie um eine spezifische Kommunikationsform, für die die Soziologie allerdings noch kein subjekttheoretisches Konzept aufzuweisen habe. Im Hinblick auf den Austausch mit der Geschichts- und Literaturwissenschaft konstatierte Heinze für die Soziologie einen erheblichen Nachholbedarf. Im zweiten Vortragsabschnitt stand der Ansatz der „Sozialkommunikation“ im Vordergrund, von dem ausgehend Schnittstellen zu den Nachbardisziplinen gefunden werden könnten – u.a. im Hinblick auf die Rezeptions­forschung sowie hinsichtlich der Kontextualisierung von Schreibgegenwart und beschriebener Vergangenheit.

Die darauf folgende Diskussion der drei Vorträge wurde vom Moderator Ulrich Schödlbauer (Hagen) mit der Provokation des autobiographischen Schreibens als „Angeberei“ eingeleitet. „Angeberei“ sei, so Depkat in seiner Replik, als Variante der sozialen Kommunikation analysier- und nutzbar. Im weiteren Verlauf ging es um den – fachlich unterschiedlichen – Nutzen von Gattungsbegriffen, um den Beitrag der Autobiographie zur Generationsforschung (Autobiographie als kollektiver Text) sowie um das Verhältnis von Zusammenarbeit und Abgrenzung zwischen den Fächern.

Zum Abschluss des ersten Sitzungstags stellte der Journalist und Autor Hans-Dieter Schütt im Rahmen der „Lüdenscheider Gespräche“ seine Autobiographie „Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR“ vor. Schütt war langjähriger Chefredakteur bei der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ und galt bis zum Ende der DDR als unversöhnlicher Hardliner. Mit seiner damaligen Position und Haltung setzte er sich ungewöhnlich schonungslos auseinander und lieferte zahlreiche Erklärungsgründe für karrieristisches Verhalten im System.

Der Frage des autobiographischen Schreibens professioneller Historiker widmete sich zu Beginn des zweiten Tages Edgar Liebmann (Hagen) anhand der Lebenserinnerungen des Zeithistorikers Hans Herzfeld. Wiewohl Liebmann empirische Nutzungsmöglichkeiten des Herzfeld-Manuskripts namentlich im regionalgeschichtlichen Rahmen aufzuzeigen vermochte, äußerte er sich im Hinblick auf die gelegentlich behauptete größere Distanz und Objektivität der Historiker-Autobiographie im konkreten Fall skeptisch.

Arthur Schlegelmilch (Hagen) referierte sodann über die autobiographischen Umbruch-darstellungen von Politikern, die nach Kriegsende in der Viersektorenstadt Berlin in führender Stellung tätig gewesen waren, ohne sich mit ihren damaligen politischen Zielen durchsetzen zu können. Weder das Kriegsende noch das persönliche politische Scheitern führten bei den Betreffenden zu Konversionserzählungen – vielmehr erklärten sie sich in abgestuftem Maße durch die Schreibgegenwart der ausgehenden sechziger und frühen siebziger Jahre gleichsam rehabilitiert und bestätigt. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Diskussion standen vor allem die von den Referenten herausgearbeiteten sozialkommunikativen Elemente (Herzfeld-Widmung: „an meinen Sohn“) sowie die zum Teil in wörtlichen Dialogwiedergaben gipfelnde Dramaturgie der Darstellung, einschließlich des räumlichen Bezugs der Erinnerungspräsentation.

Die Literaturwissenschaftlerin Valeska Steinig (Schwalbach) befasste sich mit Mechanismen der legitimatorischen Selbstbehauptung in Autobiographien ehemaliger Kunstschaffender der DDR nach 1990. Im Mittelpunkt stand die Wende als literarische Krise und Herausforderung. In den von ihr ausgewählten Beispielen (namentlich Hermann Kant, Günter de Bruyn, Heiner Müller) erwies sich das poetisch-literarische Gestaltungselement als bedeutsamer Faktor für die Darstellung von Krisenbewusstsein und -bewältigung respektive des jeweils individuellen Abschiednehmens aus der untergegangenen DDR.

Christiane Lahusen (Potsdam) widmete sich der Umbrucherzählung der Nachwendezeit im Ausschnitt von Autobiographien aus der Feder von Geisteswissenschaftlern der DDR. Auffallend sei hier vor allem das Bemühen um empirische Beweisführung und um Differenzierung zwischen öffentlicher Geschichte und privatem Lebensverlauf. Generell sei die Differenzierungsabsicht gegenüber der westdeutschen „Meistererzählung“ als zentrale Schreibmotivation und als bedeutsames narratives Gestaltungselement erkennbar.

Im Mittelpunkt des abschließenden Vortrags von Ilse Fischer (Bonn) standen Umbrucherfahrungen ostdeutscher Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Die von ihr vorgestellten autobiographischen Berichte und Äußerungen hinterließen in sachlicher Hinsicht einen äußerst vielschichtigen Eindruck, während sich die Texte in ihrer literarischen Gestaltung und narrativen Struktur durchaus ähnelten.

Die abschließende Diskussion bezog sich u.a. auf das Phänomen der Aufspaltung des autobiographischen Subjekts in ein poetisches und politisches. Als gemeinsames Gestaltungsmerkmal wurde das „Urlaubsmotiv“ thematisiert, das offenbar die Marginalisierung und Ausblendung aus unerwünschten Ereigniszusammenhängen zum Ziel hat. Christiane Lahusen vertrat die Ansicht, dass auch die Darstellung familiengeschicht­licher Ereignisse der „Neutralisierung“ öffentlicher Ereignisse dienen kann.

Als Veranstalter der Tagung zogen Arthur Schlegelmilch und Carsten Heinze eine positive Bilanz und betonten, dass es vor allem gelungen sei, die Fächer miteinander ins Gespräch zu bringen. Unter den anwesenden Vertretern der Soziologie, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft habe Einigkeit im Hinblick auf das Verständnis der Autobiographie als sozialkommunikativem Akt bestanden. Für eine Quellenkritik der Autobiographie habe die Tagung wichtige Hinweise erbracht – hierzu gehöre auch die Berücksichtigung autofiktionaler und offen narrativer Gestaltungselemente, ebenso der Paratexte und der räumlichen Strukturierung von Erinnerung. Diese Elemente und andere würden auch das Verhältnis von Autor und Leser betreffen und könnten zu einer Neubeschreibung des „autobiographischen Pakts“ anregen.

Programm

Freitag, 25.6.2010

14.00-14.15 Tagungseröffnung: Peter Brandt
14.15-14.45 Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft (Volker Depkat)
14.45-15.15 Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft (Martina Wagner-Egelhaaf)
15.15-15.45 Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Soziologie
15.45-16.15 Kaffeepause
16.15-17.00 Diskussion
17.30 Lüdenscheider Gespräch mit Hans-Dieter Schütt
19.00 Ende des ersten Tages

Samstag, 26.6.2010

Umbrucherfahrung als Gegenstand autobiographischer Darstellung und als Faktor kommunikativer Erinnerung und wissenschaftlicher Aufarbeitung

A „1945“
09.30-10.00 Rückblick auf den Krieg: Zu den Kriegstagebüchern von Jünger, Kästner und Nebel. (Hans-Edwin Friedrich)
10.00-10.30 Umbrucherfahrung 1945 – autobiographische Erinnerung aus historischer Perspektive (Arthur Schlegelmilch)
10.30-11.00 Diskussion
11.00-11.15 Kaffeepause
B „1989“
11.15-11.45 Die Wende als (literarische) Krise? Legitimatorische Selbstbehauptungen in 'Künstlerautobiographien' nach 1990." (Valeska Steinig)
11.45-12.15 Umbrucherzählungen in Nachwende-Autobiographien (Christiane Lahusen)
12.15.-12.45 Diskussion
12.45-13.00 Kaffeepause
13.00-13.30 Umbrucherfahrungen von Sozialdemokraten (Ilse Fischer)
13.30-14.00 Diskussion
14.00-14.30 Schluss (Carsten Heinze / Arthur Schlegelmilch)

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08.04.2024