Blog-Archiv: Unsicherheit | Krise | Wissen

Foto: Klaus Vedfeldt/DigitalVision/Getty Images

Moderne Gesellschaften sind mit vielfältigen Krisenphänomenen konfrontiert, die je spezifische Figurationen von Unsicherheiten aufweisen. Die Mitglieder der Forschungsgruppe postionierten sich dazu im Blogformat.

 

Über die Unsicherheit des Ankommens

15. Juni 2023 | Prof. Dr. Michael Niehaus

Mal etwas ganz anderes. Von Peter Handke gibt es ein Gedicht (wenn man es so nennen möchte) aus dem Jahr 1967 mit dem Titel „Zugauskunft“. Es beginnt mit dem in Zitatzeichen gesetzten Satz „Ich möchte nach Stock.“ Es folgt eine – nicht in Zitatzeichen gesetzt – längere Auskunft, beginnend mit „Sie fahren mit dem Fernschnellzug um 6 Uhr 2 / Der Zug ist in Alst um 8 Uhr 51. / Sie steigen um in den Schnellzug nach Teist. / Der Zug fährt von Alst ab um 9 Uhr 17. / Sie fahren nicht bis nach Teist, sondern steigen aus in Benz. / Der Zug ist in Benz um 10 Uhr 33.“ Wo um die Zugauskunft gebeten wird, erfährt man nicht. Aber es muss ein Ort sein, in dem Fernschnellzüge halten. In Stock hingegen halten keine Fernschnellzüge. Im Gegenteil. Die Zugauskunft ist so gebaut, dass es von den Fernschnellzügen abwärts geht, erst zu den Schnellzügen, dann zu den Eilzügen.

Wie weit kann es abwärts gehen? Insgesamt muss man nach Stock zwölfmal umsteigen, wobei die Umsteigezeit stark variiert, zumal auch eine Nacht dazwischen liegt: Der Auskunft zufolge muss man „in Vach gegen 1 Uhr“ aus einem „Bahnbus“ aussteigen, in den man in Hützel – allerdings „ohne Gewähr“ – eingestiegen ist, aber der „Straßenbus“ von Vach nach Eisal geht erst um 6 Uhr 15. Der Bus von Eisal nach Weiden verkehrt dann „nicht in den Schulferien“. Von Weiden aus geht es nach Schray nur mit dem „Bus eines Privatunternehmens“ weiter, der „nur nach Bedarf“ fährt. Zwischen Schray und Trompet verkehrt dann lediglich „ein Milchwagen, der bei Bedarf auch Personen befördert“. Das letzte Stück von Trompet nach Stock schließlich muss man zu Fuß gehen, weil es hier „keine Kraftverkehrslinie“ gibt. Man kann „gegen 17 Uhr 30 in Stock sein“. Es folgt die Frage des Auskunftsbedürftigen: „Im Winter ist es dann schon wieder dunkel?“, der dann abschließend zur Antwort erhält: „Im Winter ist es dann schon wieder dunkel.“

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Wie unsicher ist es demzufolge, dass man jemals in Stock ankommt? Peter Handke ersinnt hier eine Abfolge, bei welcher mit dem Komfort auch die Sicherheit der Verbindung immer weiter abnimmt. Die Zunahme der Unsicherheit erfolgt also in Stufen, im Gleichschritt mit der Beschwerlichkeit. Je weiter man sich von einem gedachten Zentrum in die Peripherie bewegt, desto unsicherer wird es – so viel ist sicher. Insofern legt das Gedicht eine feste Weltordnung zugrunde, die sich in den Bahnverbindungen getreu spiegelt. So war es, denkt man, vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert. Welches Vertrauen in den Bahnverkehr muss damals geherrscht haben! Welch vorhersehbare Unsicherheit! Schon aus diesem Grunde käme ein solches Gedicht heute – zumindest in Deutschland – niemandem mehr in den Sinn. Die heutige Unsicherheit des Ankommens sieht anders aus (und die heutige Zugauskunft erst recht). Natürlich gibt es in Wahrheit keine Verbindung, bei der man zwölf Mal umsteigen muss – damals nicht und heute nicht. Mehr als drei oder vier Umstiege sind außerordentlich unwahrscheinlich. Die Wahrheit ist aber auch – wie jeder weiß, der bisweilen Bahn fährt –, dass alles Umsteigen unsicher ist. Die Unsicherheit des Ankommens herrscht von Anfang an. Sie beginnt eigentlich schon, bevor man am Bahnhof ankommt. Denn man weiß nicht, ob sich nicht schon wieder alles geändert hat.

Eine Zugauskunft wie in Handkes Gedicht wird heutzutage natürlich ohnehin nicht mehr von einem Menschen erteilt, sondern man lässt sich die Verbindung via Internet geben und bucht die Fahrkarte wegen der Preisersparnis einige Zeit im Voraus. Die gegebene Verbindung wird dabei als ebenso sicher dargestellt wir in Handkes Gedicht. Aber diese Prognose – nichts anderes ist die gebuchte Verbindung – folgt einer anderen Logik. Es gibt unvorhersehbare Unsicherheiten. Die gebuchte Verbindung kann nämlich jederzeit revidiert werden. Bei fortgeschrittenen Nutzern der Deutschen Bahn werden diese Revisionen auf das Handy gespielt. Die Verbindung kann sich geändert haben, weil Bauarbeiten auf der Strecke durchgeführt werden, weil gestreikt wird, weil es an Personal fehlt usw. Die Unsicherheit beginnt schon vor der Fahrt, aber sie hört natürlich nicht auf, wenn man schließlich – nach Revision des ursprünglichen Reiseplanes oder nicht – auf dem Bahnsteig steht. Denn jetzt treten die kurzfristigeren Störungen in den Vordergrund, vor denen nicht rechtzeitig gewarnt werden kann: der Personenschaden, das defekte Stellwerk, der Vandalismus, die Personen auf dem Gleis usw. – oder auch nur die Verspätung aus vorheriger Fahrt, aufgrund eines vorausfahrenden Zuges, einer verspäteten Bereitstellung usw. Und nach dem verspäteten Beginn wird es dann zunehmend unsicher, ob man die Anschlusszüge noch bekommt.

Von der Unsicherheit des Ankommens wird allenthalben gesprochen. Sie ist ein Gesprächsthema – so auch hier in diesem Beitrag. Sie ist ein so ergiebiges Gesprächsthema wie sonst vielleicht nur noch das Wetter, bei dem ebenfalls jeder und jede mitreden kann. Denn wer noch keine eigenen Erfahrungen mit dieser Unsicherheit gemacht haben sollte, wird gewiss einschlägige Geschichten kennen, die er weitererzählen kann. Das Wissen um diese Unsicherheit, ist ein Wissen von unten, ein Erfahrungswissen, das sich von Mund zu Mund verbreitet. In den Medien – vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien – wird es nur höchst unzureichend repräsentiert. Die sogenannten Klima-Kleber, die nur für einen verschwindend geringen Anteil gescheiterten oder verspäteten Ankommens verantwortlich sind, genießen da weit mehr Aufmerksamkeit. Und das ist nicht weiter verwunderlich. Denn hier haben wir es mit unerhörten Begebenheiten zu tun, während die Unsicherheit des Ankommens im Bahnverkehr ja aus der Ferne der medialen Berichterstattung nur das Rauschen des Alltags ist. Man sieht das auch an einer Umkehrung: Wer von einer längeren Bahnreise zurückkehrt, und alles ist so verlaufen, wie die Zugauskunft prophezeit hat, der hat auch etwas zu erzählen. Die Unsicherheit des Ankommens hebt ein solcher Glückstreffer freilich nicht auf. Die ist so sicher wie das Amen in der Kirche.


Die „Enttäuschung des Krieges“: Eine Ergänzung

24. Januar 2023 | Prof. Dr. Wolfgang Kruse

Ausgehend von Siegmund Freuds Feststellung, angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges „irre (…) zu werden an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Wert der Urteile, die wir bilden“, hat Michael Niehaus auch für den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine die „abwegige Gewissheit, nur die andere Seite betreibe Propaganda“ hervorgehoben und die fehlende Anstrengung der Intellektuellen zur Unsicherheit über die eigene Urteilsfähigkeit als seine „Enttäuschung des Krieges“ bezeichnet. Dem kann ich mich anschließen, möchte aber in der Analogie noch einen Schritt weiter gehen. Denn Freud, der 1915 feststellen musste, dass nun seine „ganze Libido (…) Österreich-Ungarn“ gelte, war trotz aller intellektuellen Sensibilität als österreichischer Staatsbürger doch in einem nationalen Sinne selbst Kriegspartei. Für die deutsche Öffentlichkeit gilt das im gegenwärtigen Krieg so aber nicht, auch wenn viele das zu wünschen scheinen. Wir unterstützen mit guten Gründen eine, die angegriffene Kriegspartei. Aber die damit zugleich verbundene Distanz zum eigentlichen Kriegsgeschehen ist keine Schande, sondern gerade sie eröffnet uns auch die Möglichkeit und die Aufgabe, über die libidinöse Form der Parteilichkeit hinauszukommen und über den Tellerrand der propagandistischen Einseitigkeiten und Scheinsicherheiten hinauszudenken.

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Kriegspropaganda hat viele Erscheinungsformen. Gehen wir vom Ersten Weltkrieg aus, so sind zweifellos neben der Informationskontrolle die Kriegsschuldfrage, die Gräuelpropaganda und die Sinnstiftungen des Krieges als wesentliche Propagandafelder auszumachen. Die Intellektuellen haben sich dabei allerdings zumeist nicht, wie Freud meinte, durch Kriegspropaganda nur verwirren lassen; sie waren tatsächlich weit weniger Opfer der Propaganda als selbst Propagandisten, die überall das Recht der eigenen Seite betonten und im so genannten „Kulturkrieg“ im „Krieg der Geister“ den Sinn des Krieges beschworen, wie es zeitgenössisch hieß. 1915 erschien nicht nur der zitierte Aufsatz von Freud, sondern beispielsweise auch die „Gedanken im Krieg“, in denen Thomas Mann – nur ein Beispiel aus einer schier endlosen Reihe von Geistesgrößen - den Weltkrieg zu einer Auseinandersetzung zwischen „deutscher Kultur“ und minderwertiger „westlicher Zivilisation“ stilisierte. Wenn wir nun heute im Krieg zwischen Rußland und der Ukraine das Eintreten für „westliche Wert“ beschwören, dann ist das politisch zweifellos ein Fortschritt. Die Frage allerdings, ob die Ukraine gegen Russland, wie es momentan in propagandistischer Weise fast unisono heißt, ,unsere‘ Freiheit verteidigt oder ‚wir‘ nicht doch eher ihre Selbstverteidigung unterstützen, sollte darüber nicht verschüttet werden. Denn damit sind doch unterschiedliche Konsequenzen für Form und Ziel der Unterstützung verbunden.

Sicherheit in der Einschätzung propagandistischer Informationen und vermeintlicher Wahrheiten verheißt die Berufung auf westlich-demokratische Werte jedenfalls nicht: Auch demokratische Regierungen benutzen die propagandistische Meinungssteuerung als Waffe im Informationskrieg, wie man aktuell besonders am britischen Beispiel sehen kann, so dass Informationen der ‚eigenen‘ Seite nur schlichten oder selbst propagandistisch gestimmten Gemütern als sichere Wahrheiten erscheinen können. Und haben unsere amerikanischen Freunde nicht ganz offen die ganze Welt belogen, als sie für ihren Krieg gegen den Irak dortige Massenvernichtungswaffen einfach erfunden haben? Hoffnung ist hier eher, wie nicht zuletzt auch amerikanische Beispiele immer wieder gezeigt haben, von demokratischen (Gegen-)Öffentlichkeiten zu erwarten, aber nur dann, wenn sie die Aufgabe einer kritischen Auseinandersetzung mit propagandistischen Wahrheiten annehmen. Dafür ist es allerdings notwendig, sich nicht selbst, bewusst oder unbewusst, parteiischer Propaganda zu verpflichten und trotz aller ebenso richtigen wie unverzichtbaren Parteilichkeit trotzdem die schwierige Aufgabe einer kritischen Distanz zu den Informationen, Meinungen und Handlungen beider Seiten einzunehmen.

Die Kriegsschuldfrage etwa ist einfach zu beantworten, wenn sie auf die unmittelbare Auslösung des Krieges begrenzt bleibt: Rußland hat seinen Nachbarn angegriffen. Kriege haben aber nicht nur einen Beginn, sondern sie haben auch eine Vorgeschichte mit längerfristigen Ursachen, an denen nicht nur eine Seite beteiligt sein kann. Strebt man hier eine genauere Ursachenforschung und zugleich keinen militärischen Siegfrieden, sondern einen Verhandlungsfrieden an, ist es nötig, jenseits der engeren Schuldfrage auch die wechselseitigen Dynamiken der zur Kriegsauslösung führenden Zuspitzungen in den Blick zu nehmen, nicht nur nach Werten, sondern auch nach Interessen zu fragen und nicht zuletzt die Kippunkte im Beziehungsverhältnis der beteiligten Akteure zu untersuchen. Denn nur daraus können sich die Schnittmengen finden lassen, die eventuell einen zukünftigen Ausgleich ermöglichen. Wer das bereits verweigert und als „Verrat“ an der eigenen Position denunziert, der will auch keinen Verhandlungsfrieden. In ähnlicher Weise gilt das für die Frage der Kriegsgräuel, die zweifellos, schon allein aufgrund des Kriegsschauplatzes in der Ukraine, in erster Linie von der russischen Seite begangen worden sind und begangen werden. Welche Meldungen aber stimmen, und welche nicht, sollte nicht nur für eine, sondern für beide Seiten doch immer wieder Anlass zur kritischen Prüfung geben. Auch die ukrainische Seite hat Kriegsverbrechen begangen und Lügengeschichten über russische Gräueltaten verbreitet, die in unserer medialen Öffentlichkeit wenig Empörung ausgelöst haben. Und wenn von ihr angesichts der von Rußland ausgehenden Gewalt hasserfüllte Sichtweisen vertreten werden, so ist das zwar verständlich. Warum sie in Deutschland allerdings mit all ihren propagandistischen Implikationen oft ungefiltert übernommen, teilweise sogar gefeiert werden und zugleich etwa wie selbstverständlich von einem russischen Vernichtungskrieg und Genozid gesprochen wird, sollte doch selbstkritisch hinterfragt werden.

Schließlich ist es zwar selbstverständlich, dass die Ukraine souverän über ihre kriegspolitischen Entscheidungen verfügen kann. Aber welche Sicherheit bietet das für unsere Stellungnahme? Denn die Souveränität gilt doch auch für ihre westlichen Unterstützen, die damit nicht der Verantwortung dafür enthoben sind, was sie konkret unterstützen wollen und was nicht. Wer jedoch kritiklos akzeptiert, dass wir uns längst, wie der engste Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Mychaylo Podoljak, schon im September dieses Jahres unwidersprochen im ZEIT-Interview erklärt hat, im Dritten Weltkrieg befinden, der wird am Ende auch seine ebenso offen geäußerten Schlussfolgerungen mittragen müssen: Dass nur, wie nach dem Ersten Weltkrieg, ein militärisch erzwungener Sieg- und Diktatfrieden mit Völkerrechtstribunalen wie nach Zweiten Weltkrieg diesen Krieg wird beenden können. Der Historiker Christopher Clark, einer der international renommiertesten Fachleute für die Geschichte des Ersten Weltkrieges, hat dagegen jüngst im Interview mit der Berliner Zeitung treffend eingewendet, dies sei nicht nur keine Option für einen Verhandlungsfrieden, sondern gegenüber der noch immer zweitgrößten Atommacht der Welt auch eine „Denkfigur, die in die absolute Katastrophe führen kann.“

Wenn also von todesmutigen ukrainischen Stimmen immer mal wieder beschworen wird, vor einem Atomkrieg nun wirklich gar keine Angst zu haben, dann ist eine solche Scheinsicherheit nicht souverän oder gar bewundernswert, sondern am Ende doch nur eine gruselige Anmaßung, der es auch in unserem Interesse zu widersprechen gilt.


„Die Enttäuschung des Krieges“

23. Januar 2023 | Prof. Dr. Michael Niehaus

Dum-dum-geschosse-webFoto: Gemeinfrei via Wikimedia Commons

Im Jahr 1915 erschien in der Zeitschrift Imago ein Essay von Sigmund Freud mit dem Titel Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Verfasst ist dieser zweiteilige Essay im Frühjahr, etwa ein halbes Jahr nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der erste Teil „Die Enttäuschung des Krieges“, beginnt mit den folgenden Worten: „Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich uns aufdrängen, und an dem Wert der Urteile, die wir bilden. Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschheit zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelenstörung verkünden. Aber wahrscheinlich empfinden wir das Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht, es mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht erlebt haben.“ (Sigmund Freud: Studienausgabe Bd. IX, S. 35)

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Freud war zu diesem Zeitpunkt 58 Jahre alt. Auch wenn Österreich-Ungarn Kriegspartei war, musste er nicht mehr als „Kämpfer“ zu einem „Partikelchen der riesigen Kriegsmaschinerie“ (ebd.) werden. Für ihn ist die vorherrschende Erfahrung, dem er mit diesen bewegenden Worten Ausdruck verleiht, derjenige der Unsicherheit, des Verlusts an Orientierung. Damit ist nicht gemeint, dass man nicht wissen kann, wie der Krieg ausgeht. Freuds Ausgangspunkt ist vielmehr, dass die Verfeindung uns alle Sicherheiten nimmt. Wir wissen nicht mehr, was wir glauben können, weil das Wissen zu einer Waffe geworden ist und damit seinen Status als Wissen, auf das man sich berufen kann, verloren hat. Die Bezeichnung dafür heißt Propaganda. Sie wurde im Ersten Weltkrieg in einem zuvor ungekannten Maße insbesondere mit den neuen Massenmedien betrieben. Und es ist bekannt, wie „viele der klarsten Intelligenzen“ auf allen Seiten sich durch diese Propaganda haben verwirren lassen. Die Voraussetzung für dieses Verwirrtwerden ist aber die Leugnung der Unsicherheit, oder genauer: die abwegige Vorstellung, nur die andere Seite betreibe Propaganda.

Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschuldigten sich die Kriegsparteien gegenseitig, von der Haager Landkriegsordnung von 1907 geächtete Munition wie etwa die berüchtigten Dum-Dum-Geschosse zu verwenden, wie sie von den Engländern in den Kolonialkriegen eingesetzt worden waren. Inzwischen ist man sich einig, dass keine der Kriegsparteien damals solche Geschosse systematisch eingesetzt hat. Als gesichert gilt aber auch, dass die Herstellung solcher Teilmantelgeschosse, die ganz leicht durch Abfeilen der Patronenspitze erreicht werden konnte, auf Initiative von Soldaten an der Front durchaus vorgekommen ist. (Vgl. Der Soldat an der Westfront – Der Einsatz von Dum-Dum-Geschossen)

Die abwegige Gewissheit, nur die andere Seite betreibe Propaganda, ist das erste, was eine Propaganda, die Erfolg haben will, bewerkstelligen muss. Das heißt: Die Unsicherheit fällt einem nicht in den Schoß. Man muss sich dafür anstrengen, man muss offen für sie sein. Ich vermisse die Intellektuellen, die im gegenwärtigen Krieg zu dieser Anstrengung bereit sind, die offen bleiben für die Erfahrung, die Freud in seinem Essay in Worte zu fassen versucht. Auch das ist eben eine „Enttäuschung des Krieges“.


 

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