Kolloquium

Thema:
Kybernetik, gesellschaftliche Krisen und die sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen: Das Projekt Cybersyn oder postkoloniale Kybernetik
Referent/-in:
Katharina Loeber, Hagen
Adresse:
Digital über Zoom

Anmeldung bitte per Mail an karin.gockel@fernuni-hagen.de
Termin:
01.06.2021, 18:15 Uhr

Kybernetik spielte in den 1960er und 1970er Jahren eine Rolle in Bezug auf Automatisierung und Organisation gesellschaftlicher Prozesse, hauptsächlich in den ZSA oder als Gegenpunkt der Sowjetunion, beispielsweise unter der Regierung von Walter Ulbricht. Jedoch entstand auch in Chile während der Regierungszeit von Salvador Allende Chile von 1970-73 ein kybernetisches Großprojekt namens Cybersyn als ein Werkzeug der Staatsorganisation beziehungsweise zur Lösung dessen zahlreicher Krisen. Es handelte sich um ein frühes Datenverarbeitungsnetzwerk, eingeführt unter der Leitung des britischen Kybernetikers Stafford Beer. Die Akteure entwickelten kybernetische Modelle von Firmen im nationalisierten Sektor und ein Fernschreibernetzwerk, welches die Firmen mit einem zentralen Computer in Santiago de Chile verband. Ziel war der schnelle Austausch ökonomischer Daten zwischen Regierung und Unternehmen. Cybersyn wird gelegentlich als „sozialistisches Internet“ oder „socialist origins of Big Data“ rezipiert.

Salvador Allende hatte die Wahlen in Chile 1970 knapp gewonnen und regierte in Koalition. Die Situation war jedoch alles andere als einfach. Im Land fanden tiefgreifende ökonomische und soziale Reformen statt. Ein Kreditstopp der Weltbank sowie die Devisenschwäche seiner Wirtschaft zwangen Allende schließlich dazu, die Staatsausgaben auf ein Minimum zurückzufahren. Der Wirtschaftsminister Fernando Flores sowie der chilenische Informatiker Raul Espejo hielten die Kybernetik für eine geeignete Methode, die Probleme in den Griff zu bekommen und wandten sich an den britischen Kybernetiker Stafford Beer. In der Wirtschaftsförderungsbehörde CORFO war man überzeugt, dass Beers kybernetische Managementprinzipien nicht nur Unternehmen, sondern auch eine ganze „Volksökonomie“ effizienter machen konnten - selbst die eines so genannten "unterentwickelten", postkolonialen Staates wie Chile.

Ziel war keine Verwaltungswirtschaft nach sowjetischem Vorbild, sondern ein dritter Weg zwischen Plan- und Marktwirtschaft - ähnlich, wie Allende nach seiner Wahl 1970 den imperialen Kapitalismus zurückdrängen wollte, ohne eine kommunistische Diktatur zu errichten. Ein weiterer gewichtiger Punkt ist die räumliche Verortung. Die Tatsache, dass hier zukunftsweisende Forschung und Entwicklung in einem so genannten "Schwellenland" in Lateinamerika praktiziert und angewendet wurde, liefert einen wichtigen Beitrag zu postkolonialen Diskursen. Wissen wurde nicht, wie beispielsweise zur Zeit der chilenischen Salpeterzyklen, in Europa durchgeführt unter Konsequenzen für die Ökonomie Chiles, sondern fand in Chile selbst statt. Hier liegt ein Transferprozess vor, bei dem technische Expertise aus Europa in einem ehemals kolonisierten Land die Entwicklung eines technischen Großprojekts ermöglichte, das half, das politische System dort zeitweilig zu erhalten.

Dies ist jedoch nur eine von möglichen Fragestellungen, für die die Untersuchung des Projekts Cybersyn einen Anfangspunkt liefert.

Der Einsatz digitaler Tools und technischer Neuentwicklungen spielt gesellschaftlich gerader in der aktuellen Coronakrise eine wichtige Rolle. Diskussionen um Nützlichkeit und Datensicherheit von Corona tracing Apps oder digitalen Impf-und Immunitätsausweisen sind Teil des inzwischen internationalen Krisenmanagements. Hier war Chile –unter gegenteiligen politischen Voraussetzungen- mit der Planung der CarnetCovid 19, die vor allem den chilenischen Arbeitsmarkt wieder in Gang bringen sollte, im April 2020 umstrittener Vorreiter. Die App wurde letztlich aufgrund befürchteter Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt nie zugelassen. Zu untersuchen ist, ob hier eine Kontinuität der Idee, gesellschaftliche Krisen durch technische Innovationen zu lösen, vorliegt und inwieweit diese durch gesellschaftliche und ökologische Voraussetzungen beeinflusst wird.

Der letztgenannte Punkt ist bisher eher wenig thematisiert worden. Technologische Entwicklung sowie Umweltbedingungen und -veränderungen sind eng miteinander verbunden. Andererseits reduzieren wir technologische Innovationen häufig auf einzelne technische Komponenten, während die Verknüpfung mit und ökologischen Voraussetzungen ignoriert wird. Bezüglich Projekt Cybersyn liegt hierbei kaum Material vor. Ein Versuch, das Projekt zu kartographieren, der als abschließender Teil gezeigt wird, zeigt aber bereits auf, dass Chiles Geographie und natürliche Ressourcen bei der Implementierung von Cybersyn einen nicht zu unterschätzenden Aspekt darstellten.

Karin Gockel | 08.04.2024