Rückblick auf den GAAD 2021 an der FernUniversität

Am 20.05.2021 fand an der FernUniversität in im Rahmen des Global Accessibility Awareness Days die Veranstaltung „Digitales Prüfen zwischen Barrierefreiheit und angemessenen Vorkehrungen" statt. Dieser Text dokumentiert die wichtigsten Punkte der beiden Vorträge. Außerdem fand am Vormittag in der Universitätsbibliothek die Veranstaltung „Disability Studies: Eine Disziplin stellt sich vor" statt, die hier ebenfalls dokumentiert wird.

  • Dr.in Maike Gattermann-Kasper, Dr.in Marie-Luise Schütt (beide Universität Hamburg): Didaktische Aspekte barrierefreien digitalen Prüfens
  • Prof. Dr. Gerhard Weber: Digitale Prüfungen ohne Barrieren
  • Veranstaltung der Universitätsbibliothek: Disability Studies – eine Disziplin stellt sich vor

Hinweis: Die hier dokumentierten Ergebnisse stellen die Meinungen und Ansichten der jeweiligen Referent*innen dar. Sie sind keine offizielle Stellungnahme der Hochschule oder von Angehörigen der Hochschule.

Didaktische Aspekte barrierefreien digitalen Prüfens

Ist inklusives Prüfen ein Auftrag der UN-Behindertenrechtskonvention?

Inklusives Prüfen ist als Auftrag der UN Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu sehen, die für alle Lebensbereiche den Auftrag zur Inklusion sicherstellt. In der UN-BRK sind Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen als zentrale Konzepte festgehalten.

Hinsichtlich des Konzepts der Barrierefreiheit bedeutet das, dass Lehrende proaktiv barrierefreie Prüfungsbedingungen mit gruppenbezogen Standards herstellen, so dass Prüfungen von allen unter den vorgesehenen Bedingungen absolviert werden können - das wäre der Idealfall. Aus dem Blickwinkel der angemessenen Vorkehrungen wäre es so, dass Lehrende reaktiv, also im Nachhinein barrierefreie Prüfungsbedingungen für einzelne Studierende herstellen. Die Standards sind also nicht gruppenbezogen, sondern werden individuell festgelegt. Im Ergebnis werden Prüfungen von vielen unter den vorgesehenen Bedingungen absolviert, nur einige Studierenden können Prüfungen unter angepassten Bedingungen ablegen. Diese Vorgehensweise wird momentan praktiziert. Zwischen beiden Konzepten, der Barrierefreiheit und der angemessenen Vorkehrungen, gibt es in der Praxis natürlich Beziehungen, langfristig sollte Barrierefreiheit aber die angemessenen Vorkehrungen weitestgehend überflüssig machen.

Sind Prüfungen barrierefrei gestaltet, kann es trotzdem sein, dass im Einzelfall diese Bedingungen nicht ausreichen und trotzdem noch angemessene Vorkehrungen ergänzend hinzukommen müssen. Bei der Barrierefreiheit von Prüfungen ist es wichtig, dass gruppenbezogene Standards umgesetzt werden. Im Moment gibt es diese Standards aber schlichtweg noch nicht. Mit dem Konzept des "Universal Design for Learning" (UDL) gibt es Ideen und Empfehlungen, wie Barrierefreiheit gestaltet werden kann. Recht konkret sind die Standards im Bereich von Dokumenten, an denen man sich orientieren kann.

Sind Nachteilsausgleiche ein Instrument zur chancengerechten Teilhabe?

Im Bereich der Prüfungen gibt es an Hochschulen eine etablierte Praxis zur Teilhabe über das Instrument des Nachteilsausgleichs. Man muss sich hierbei aber klarmachen, dass über den Nachteilsausgleich nur ein Teil der Prüfungsbedingungen überhaupt angepasst werden kann, weil es rechtliche Grenzen gibt. Insofern ist mehr Barrierefreiheit sinnvoll, weil dann auch Bereiche verbessert werden, in denen der Nachteilsausgleich aus rechtlicher Sicht überhaupt nicht greifen würde.

Wie wird barrierefreies Prüfen definiert?

Nach unserem Verständnis (Anm. d. Verf.: der Referentinnen) bedeutet barrierefreies Prüfen, dass Prüfungs- und Aufgabenformate nach Standards barrierefrei gestaltet werden, damit möglichst alle Studierenden unter den vorgesehenen Bedingungen die Prüfungen absolvieren können. Im Idealfall sind individuelle Anpassungen bzw. Nachteilsausgleiche nur noch dann erforderlich, wenn es etwas Außergewöhnliches gibt. Die Zahl der individuellen Nachteilsausgleiche würde sich deutlich reduzieren.

Können alle Prüfungsformen und -formate barrierefrei gestaltet werden?

Die Barrierefreiheit kann aus technischer Sicht erfüllt sein, und trotzdem können noch Nachteile für Studierende mit Beeinträchtigung verbleiben. Ein Beispiel wären Multiple-Choice-Klausuren mit Blick auf die Bearbeitungszeit. Trotz technischer Barrierefreiheit werden Studierende, die zum Beispiel blind oder hochgradig sehbehindert sind, eine längere Bearbeitungszeit benötigen, weil natürlich der Überblick und das vergleichende Betrachten im Gesamten mit großer Wahrscheinlichkeit fehlen wird.

Auch bei Fotos, Filmen, oder anderem Bildmaterial braucht es trotz qualitativ hochwertigen Alternativtexten mehr Zeit, die Inhalte zu erfassen. Auch wenn die Standards der Barrierefreiheit eingehalten sind, muss man sich klarmachen, es ist nicht genau das Gleiche. Letztlich muss die Möglichkeit bestehen bleiben, im Rahmen des Nachteilsausgleiches zu ergänzen und ggf. Prüfungs-, oder Aufgabenformate zu wechseln.

Welche allgemeinen Empfehlungen gibt es?

  • Wählen Sie Prüfungsformate, die möglichst vollständig barrierefrei gestaltet werden können.
  • Informieren Sie die Studierenden. Je besser die Studierenden über die Prüfungsbedingungen informiert sind, darüber was sie erwartet und wie die Prüfungssituation aussehen wird, umso besser können sie die Prüfung absolvieren. Das trägt auch zur Barrierefreiheit und Chancengerechtigkeit bei.
  • Informieren Sie über die verwendete Prüfungssoftware und die technischen Voraussetzungen.
  • Informieren Sie über Prüfungs- und Aufgabenformate.
  • Informieren Sie über den möglichen Einsatz von Hilfsmitteln.
  • Teilen Sie den Studierenden mit, wie sie sich bei technischen Störungen verhalten sollen (Notfallemail, Ansprechpartner etc.).
  • Informieren Sie auch die Lehrenden, insbesondere über die barrierefreie Gestaltung von Prüfungs- und Aufgabenformate. Informieren Sie die Lehrenden aber auch über alle anderen Aspekte der digitalen Prüfungen, damit die Lehrenden diese Informationen auch an die Studierenden weitergeben können.
  • Stellen Sie Probeklausuren bereit, damit Studierende und Lehrenden die Prüfungsplattform ausprobieren und erproben können.

Digitale Prüfungen ohne Barrieren

Für wen ist Barrierefreiheit von digitalen Prüfungen wichtig?

Grundsätzlich ist es wichtig, Barrieren von Systemen für digitale Prüfungen im Vorfeld zu erkennen, damit nicht erst im Nachhinein bemerkt wird, was schief gegangen ist. Die Barrierefreiheit von digitalen Prüfungen ist dabei für alle Studierenden wichtig, unabhängig davon, ob bei ihnen eine gesundheitliche Beeinträchtigung vorliegt oder nicht.

Gleichwohl machen Studierende mit psychischen Aspekten machen den größten Anteil unter den Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen aus. Es ist unklar, wie diese Gruppe direkt von barrierefreien digitalen Prüfungen profitieren könnte. Offensichtlicher ist dies bei anderen Gruppen, beispielsweise Studierenden mit Mobilitätsbeeinträchtigungen, mit Seh-, Hör- oder Sprachbeeinträchtigungen. Für diese Studierenden ist die Barrierefreiheit unmittelbare Voraussetzung dafür, erfolgreich an digitalen Prüfungen teilnehmen. Bei Prüfungen und auch bei digitalen Prüfungen geht es um Interaktionen und Kommunikation zwischen den zu prüfenden Studierenden und den Prüfer*innen, die realisiert werden muss.

Wie kann die technische Barrierefreiheit von digitalen Prüfungen überprüft und ermittelt werden?

Grundsätzlich unterliegen alle Prüfungssysteme, die an Hochschule eingesetzt werden, der jeweils gültigen Landesgesetzgebung zu barrierefreier Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT). Diese verweisen in der Regel auf den europäischen Standard EN 301 549 zur Barrierefreiheit von IKT und diese wiederum auf die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1.

Die technische Barrierefreiheit von digitalen Prüfungen betrifft dabei alle Aspekte von Prüfungen:

  • Offiziellen Dokumente der Hochschulen wie Prüfungsordnungen und andere Rahmenordnungen müssen barrierefrei sein, damit sich Studierende über die rechtlichen und organisatorischen Vorgaben informieren können.
  • Systeme zur Prüfungsorganisation müssen barrierefrei sein, damit sich alle Studierenden selbstständig zu Prüfungen an- und auch wieder abmelden können.
  • Die Prüfungssysteme müssen barrierefrei sein, damit Studierende im Idealfall an allen Prüfungen teilnehmen können, ohne einen Nachteilsausgleich beantragen zu müssen.
  • Nach der Korrektur und Benotung der Prüfung stehen die Prüfungsergebnisse zur Einsichtnahme durch die Studierenden bereit. Studierende haben einen Anspruch und ein Recht auf die Einsicht in die Prüfung. Daher müssen auch diese Systeme barrierefrei sein, damit sich Studierende selbstständig über die Prüfungsergebnisse informieren und auch Einsicht in die Prüfungsdokumentation wie die Klausurbögen nehmen können.
  • Auch die konkrete Realisierung der Prüfung, d.h. die Umsetzung durch die Prüfer*innen ist entscheidend.

Welche inhaltlichen Anforderungen der WCAG 2.1 sind im Zusammenhang mit Prüfungen besonders relevant?

Grundsätzlich gelten natürlich alle Anforderungen der WCAG 2.1 im Zusammenhang mit Prüfungen. Einige Kriterien sind aber besonders hervorzuheben, weil sie sich unmittelbar auch auf die Durchführung und den Inhalt von (digitalen) Prüfungen.

Das WCAG-Kriterium 1.1.1 fordert Textalternativen für Nicht-Text-Inhalten; das ist der sogenannte Alternativtext, der bei Bildern und anderen Nicht-Text-Inhalten hinterlegt wird, damit Bildschirmleseprogramme (Screenreader) diesen Alternativtext ausgeben können. Bei prüfungsrelevanten Nicht-Text-Inhalten kann nur die prüfende Person sagen, wie der Alternativtext formuliert werden muss, ohne bereits die Lösung einer Prüfungsaufgabe zu verraten.

Bei mündlichen Prüfungen, die digital und online mittels Videokonferenzsystem durchgeführt werden, fordert das WCAG-Kriterium 1.2.4 Untertitel für Live-Audioinhalte. Hier können beispielsweise bei mathematischen Formeln Probleme auftreten, wenn nicht klar ist, wie diese live transkribiert werden.

An vielen Stellen ist die Barrierefreiheit von Prüfungen noch nicht zu Ende durchdacht. Beispielsweise stellen Verweise auf visuelle Aspekte einer Grafik („Welche der vier roten Markierungen...?") eine Hürde für viele Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen dar. Ebenso sind Zuordnungsaufgaben, die nur mit der Maus bedienbar sind, eine Barriere für Studierende, die keine Maus nutzen können.

Wie lassen sich digitale Prüfungen umsetzen?

An digitalen Prüfungen sind viele Personen beteiligt, die für unterschiedliche Aspekte verantwortlich sind. Grundsätzlich ist eine Kooperation und ein Austausch zwischen den Prüfungsteilnehmer*innen und dein Prüfer*innen wünschenswert. So kann früh überprüft werden, die zugänglich eine bestimmte Prüfungsform ist und welche Alternativen umgesetzt werden können. Studierende wissen selber oft am besten, wie Prüfungen barrierefrei realisiert werden können. Sie kennen ihre digitalen Arbeitstechniken und wissen, wie sie ihre Assistiven Technologien bedienen und nutzen können.

Aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen entscheiden zudem nicht die Prüfer*innen alleine, welche Art von Prüfung sie umsetzen möchten. Hier sind Prüfungsausschüsse und Prüfungsämter zu berücksichtigen, die oft über die Prüfungen entscheiden oder zu einem wesentlichen Teil mitbestimmen. Hier öffnen sich eigentlich Gestaltungsspielräume, zu oft aber haben Verwaltungseinrichtungen ihre eigenen Normierungswünsche und agieren in zu engen Spielräumen.

Was ist bei formativen Prüfungen zu beachten?

Auch formative Prüfungen als kontinuierliche Begleitung eines Lernprozesses müssen barrierefrei sein. In vielen Studienfächern müssen kontinuierlich über das Semester hinweg kleine eigenständige Studienleistungen erbracht und eingereicht werden. Auch die dafür eingesetzten Systeme müssen barrierefrei sein. Besondere Vorkehrungen zu treffen, wenn beispielsweise Geräte in Laboren bedient und Werte abgelesen werden müssen. Exkursionen außerhalb der Hochschule lassen sich oft nicht für alle Studierenden realisieren. Hier wären fernsteuerbare Roboter als Assistenz eine Möglichkeit, wenig mobile Studierende an diesen Angeboten teilhaben zu lassen.

Disability Studies: Eine Disziplin stellt sich vor

Im Rahmen des GAAD fand die Kooperationsveranstaltung „Disability Studies: Eine Disziplin stellt sich vor" statt, die von der Universitätsbibliothek gemeinsam mit dem Referat für Chancengleichheit und dem AStA der FernUniversität veranstaltet wurde. Die Veranstaltung richtete sich an Angehörige der FernUniversität, Studierende, Fachpublikum und Interessierte außerhalb der Hochschule.

Rebecca Maskos (Hochschule Bremen) skizzierte einführend, worum es den Disability Studies eigentlich geht und woher die wissenschaftlichen Ansätze kommen. Prof.in Dr.in Swantje Köbsell (Alice Salomon Hochschule Berlin) gab einen kurzen Überblick über die Entstehung der Disability Studies in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dr.in Mai-Anh Boger (Universität Bielefeld) stellte die neue Fachzeitschrift „Zeitschrift für Disability Studies" (ZDS) vor. Sie ist barrierefrei und erscheint im Open Access. Dr. Björn Fisseler (FernUniversität in Hagen) nahm als Respondent an der Diskussion teil.

Insgesamt 146 Personen aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz hörten der Live-Veranstaltung zu und beteiligten sich an der anschließenden Podiumsdiskussion. Von drei verschiedenen Hochschulen nahmen ganze Seminargruppen teil. Etwa ein Drittel der Teilnehmenden waren Studierende, und das anschließende Feedback zeigte, dass sie sich sehr vom Event angesprochen fühlten. Auch für das teilnehmende Fachpublikum boten die Diskussion und die Vorstellung der Fachzeitschrift neue Einblicke und Gelegenheiten zur Diskussion. Dank des digitalen Formats konnten zahlreiche Zuhörer*innen teilnehmen, die eine Präsenzveranstaltung nicht besucht hätten.

Am 15.07.2021 erfolgt die Veröffentlichung der Erstausgabe von „Disability Studies" online.