Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Flucht nach Deutschland

Anja Munder im Vortrag Foto: Werner Daum
Anja Munder im Vortrag

Psychologische Perspektiven auf die aktuelle Flüchtlingsdebatte

17. Mai 2017, 18 Uhr
Anja Munder

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1 MB)

Eine fachpsychologische Analyse der Flüchtlingskrise – Erkenntnisse der Hagener Psychologie in den Karlsruher „Gesprächen am Tor“

60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – diese Schätzung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR betrifft die größte globale Migration seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bekanntlich strandet davon nur die Spitze des Eisbergs in Europa: 2015 kamen etwa 900.000, 2016 nochmals 280.000 geflüchtete Menschen nach Deutschland. Wie geht nun eine aufnehmende Gesellschaft mit der daraus resultierenden Herausforderung der „Integration“ um?

Dieser Frage ging Anja Munder aus fachpsychologischer Sicht in den „Gesprächen am Tor“ nach, zu denen das Regionalzentrum Karlsruhe die interessierte Stadtöffentlichkeit anlässlich der „Heimattage Baden-Württemberg“ eingeladen hatte. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der FernUniversität in Hagen erläuterte plausibel die Entstehung von Vorurteilen und Diskriminierung durch die in der Aufnahmegesellschaft wirksame soziale Kategorisierung und den dabei aufbrechenden Wettbewerb um Ziele und Ressourcen: Die Wahrnehmung der Geflüchteten als „Fremdgruppe“ mündet infolge eines empfundenen Konkurrenzverhältnisses in den offenen Konflikt zur Gegengruppe. Um so wichtiger und wertvoller erscheinen in diesem Zusammenhang die fachpsychologischen Erkenntnisse zum Abbau oder gar zur Vermeidung von Vorurteilen: Anhand des Forschungsstands verwies die Referentin nachdrücklich auf die Bedeutung des Intergruppenkontakts, durch den sich wahrgenommene (realistische oder symbolhafte) Bedrohungsgefühle entschärfen und damit eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Vorurteilen und Diskriminierung ausschalten ließen.

In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass der schillernde und oftmals tagespolitisch verkürzte Begriff der „Integration“ kaum auf die bloße berufliche Eingliederung allein oder gar auf eine einseitige soziokulturelle Assimilation der „Fremden“ zielt, sondern immer auch die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zu Annäherung und Wandel voraussetzt. In diesem Zusammenhang formulierten die anwesenden VertreterInnen der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe eine nachdenkliche Zwischenbilanz, in der nicht zuletzt vor dem Hintergrund frauenpolitischer bzw. emanzipatorischer Errungenschaften vor allem die Erfahrung soziokultureller Distanz beeindruckte. Insgesamt zeigte die Veranstaltung aber auch auf, dass die angesprochenen fachpsychologischen Erkenntnisse leider nur eine untergeordnete Rolle im tages- und parteipolitischen Geschäft spielen, obwohl doch die Politik gut beraten wäre, diesen Fachdiskurs zu berücksichtigen und der Öffentlichkeit nahe zu bringen – wie dies Anja Munder mit ihrem Vortrag in Karlsruhe erfolgreich getan hat.

Anja Munder, Jahrgang 1985, arbeitet seit 2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrgebiet für psychologische Methodenlehre und Evaluation am Institut für Psychologie an der FernUniversität in Hagen. Ihre Forschung beschäftigt sich mit sozialer Identität und dem Umgang mit Diskriminierung.

Fachnetzwerk Sozialpsychologie zu Flucht und Integration [externer Link, ab August 2017]