Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Italienische „Gastarbeiter“, Europa und der Südwesten

Heike Knortz im Vortrag Foto: Werner Daum
Heike Knortz im Vortrag

Aspekte früher europäischer Integration aus der Perspektive Baden-Württembergs

21. Juni 2017, 18 Uhr
Prof. Dr. Heike Knortz

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1 MB)

Die Arbeitsmigration in die frühe Bundesrepublik als „Akt europäischer Solidarität“ – neue Forschungsergebnisse zur außenpolitischen Dimension des „Gastarbeiterzuzugs“ (1955-1973)

Zwischen dem ersten Anwerbekommen von 1955 mit Italien bis zum Anwerbestopp 1973 kamen 2,6 Mio. sog. „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik. Darunter bildeten italienische Arbeitsmigranten eine beachtliche Gruppe, zu der neuere Forschungsergebnisse vorliegen, die nun anlässlich der „Heimattage Baden-Württemberg“ im Regionalzentrum Karlsruhe der FernUniversität in Hagen vorgestellt und diskutiert wurden.

In ihrem historisch fundierten Vortrag betonte Prof. Dr. Heike Knortz die außenpolitische Dimension dieser Arbeitsmigration in die frühe Bundesrepublik. Die Referentin, die Wirtschaftsgeschichte am Institut für Ökonomie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe lehrt, konnte anhand ihrer Archivforschungen plausibel nachweisen, dass insbesondere die italienische Arbeitsmigration ganz unter dem Primat außenpolitischer Erwägungen und Rücksichtnahme stand, während volkswirtschaftliche Motive eher eine geringere Rolle spielten. Vielmehr lässt die langfristige wirtschaftsgeschichtliche Perspektive sogar eine ökonomische Fehlentwicklung als eine Folge der Arbeitsmigration erkennen, da durch den Arbeitseinsatz vorwiegend gering qualifizierter ausländischer Migranten die dringend benötigte Rationalisierung und Modernisierung bestimmter Wirtschaftssektoren (Textilbranche, Bergbau u.a.) verzögert wurde. Dessen ungeachtet ist die von der Bundesrepublik ermöglichte italienische Arbeitsmigration als „Akt der europäischen Solidarität“ zu verstehen, den Heike Knortz anhand der diplomatischen Aktenlage dokumentierte. Gegenüber der bisherigen Forschung hob die Referentin außerdem hervor, dass das Land Baden-Württemberg eine Zwangsrotation als Instrument der Zuzugsbeschränkung ablehnte. Ihre Auswertung der Quellen des baden-württembergischen Landtages und des Hauptstaatsarchivs Stuttgart ergab vielmehr, dass das „Ländle“ auf eine freiwillige Rotation (d.h. Rückkehr ins Heimatland nach fünfjährigem Aufenthalt und Zuzug einer neuen Arbeitskraft) und eine sog. „Regionalsteuerung“ setzte, um die Migration zu steuern.

Die sich an den Vortrag anschließende Diskussion thematisierte in erster Linie die Parallelen, die sich aus der historischen Betrachtung der europäischen Arbeitsmigration in die frühe Bundesrepublik für die aktuelle globale Migrationsfrage unweigerlich ergeben. Der Erfahrungsbericht einer Zeitzeugin ließ erkennen, dass sich damals begangene Fehler und Defizite insbesondere in der Integrationspolitik mitunter auch heute nicht vermeiden lassen. Auch scheint sich die damalige Verweigerungshaltung der Politik, die Bundesrepublik auch innenpolitisch als Einwanderungsland zu gestalten, heute in einem halbherzigen Integrationsappell fortzusetzen, der allzu oft die kulturelle Anpassungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft als unverzichtbare Komponente eines beiderseitigen Annäherungsprozesses verschweigt. Möglicherweise bot die Veranstaltung aus historischer Sicht aber auch einen Fingerzeig auf die europäische Lösung aktueller Fragen, indem sie einmal mehr den Wert und die Kontinuität des europäischen Projekts für die jüngere deutsche Geschichte verdeutlichte.

Heike Knortz, geb. 1962, ist außerplanmäßige Professorin für Wirtschaftsgeschichte am Institut für Ökonomie und ihre Didaktik der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Sie forscht besonders zur Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkten zur Geschichte industrieller Rationalisierungen, zur Geschichte der europäischen wirtschaftlichen Integration, zur Arbeitsmigration in die Bundesrepublik Deutschland sowie zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Weimarer Republik. Einen weiteren wichtigen Forschungsschwerpunkt stellt das Zeitalter des Merkantilismus dar.

Bibliografischer Hinweis zum Nachlesen und Vertiefen der Thematik:
Heike Knortz, Gastarbeiter für Europa. Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration, Köln u.a. 2016 [Externer Link: Verlagspräsentation]