Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Das Ende des Obersten Bundesgerichts im Jahre 1968

Detelv Fischer im Vortrag Foto: Werner Daum
Detelv Fischer im Vortrag

50 Jahre einheitliche Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes

13. Juni 2018, 18 Uhr
Dr. Detlev Fischer

Flyer zum Vortrag (PDF 1 MB)

Eine kaum beachtete Verfassungsrevision aus dem Jahr 1968 und ein halbes Jahrhundert einheitliche Bundesrechtsprechung

Das Jahr 1968 kann bekanntlich mit einem äußerst bewegten zeitgeschichtlichen Hintergrund aufwarten, der vermutlich dafür verantwortlich ist, dass eine in jenem Jahr vollzogene Verfassungsänderung in der geschichtlichen Betrachtung der westdeutschen Bundesrepublik eher geringe Aufmerksamkeit gefunden hat. In der Tat beschloss damals der Bundestag, kurz nach Verabschiedung der viel diskutierten Notstandsgesetze, eine kaum beachtete Neufassung des Artikels 95 des Grundgesetzes, der die einheitliche Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte zum Gegenstand hat. Aus Anlass des 50. Jahrestages dieser Verfassungsänderung erinnerte Dr. Detlev Fischer (Richter am Bundesgerichtshof a.D. und Vorsitzender des Vereins Rechtshistorisches Museum e. V., Karlsruhe) in den „Gesprächen am Tor“ an die Lage der Bundesjustiz um 1968 und zog eine Bilanz der vor fünf Jahrzehnten getroffenen Weichenstellung für deren einheitliche Rechtsprechung.

Unter dieser Fragestellung bot der Referent dem interessierten Publikum eine minutiöse Darlegung der Entwicklungsgeschichte der obersten bundesdeutschen Gerichtsorganisation von den Anfängen bis in die Gegenwart hinein. So machte er deutlich, wie bereits die Verfassungsberatungen des Parlamentarischen Rates 1948/49 von der Kontroverse gekennzeichnet waren, ob es zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung der Bundesgerichte überhaupt eines „Obersten Bundesgerichts“ bedürfe, wie es dann in der ersten Fassung von Artikel 95 des Grundgesetzes in Aussicht gestellt wurde. Auch in der nachfolgenden Entwicklung, insbesondere im Zuge der sukzessiven Errichtung der Bundesgerichte (Bundesfinanzhof, Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht, Bundesverwaltungsgericht, Bundesarbeitsgericht, Bundessozialgericht), sollte diese Absichtserklärung ein bloßes „Blatt Papier“ bleiben: Anhand der diesbezüglichen fachöffentlichen und politischen Diskussion in den ersten fünf Legislaturen des Bundestages zeigte Fischer auf, warum der ursprünglich formulierte Verfassungsauftrag für 19 Jahre unerfüllt blieb und dann 1968 „kassiert“ wurde. Den diskursiven Entwicklungsgang veranschaulichte der Referent mit Porträts herausragender Persönlichkeiten der juristischen Zeitgeschichte, die sich wie Walter Strauß (1900-1976), Thomas Dehler (1897-1967) und Heinrich Jagusch (1908-1987) maßgeblich an der Auseinandersetzung über ein Oberstes Bundesgericht beteiligten. So wurde deutlich, wie die Rechtsprechungspraxis nicht nur der juristischen Seite, sondern allmählich auch der politischen Öffentlichkeit zu der Einsicht verhalf, dass ein „Gemeinsamer Senat“ der obersten Bundesgerichte für die „Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung“ ausreiche, wie es dann die Verfassungsänderung von 1968 auf den Punkt brachte.

Das Kuriosum des vor 50 Jahren verfassungsmäßig sanktionierten „Endes“ eines Obersten Gerichts, das es eigentlich nie gegeben hatte, beflügelte auch den anschließenden Austausch mit dem Publikum. Trotz des insgesamt überschaubaren Fallaufkommens für den Gemeinsamen Senat – von seiner Entstehung 1968 bis heute hatte er nur 31 Verfahren zu führen – erkannte man in seinem Auftrag zur Sicherstellung der einheitlichen Rechtsprechung der Bundesgerichte ein hohes grundrechtliches Gut, das in einem Rechtsstaat unverzichtbar sei. Auch wenn eine Reform des Gemeinsamen Senats im Sinne seiner Verschlankung überlegenswert erscheine, resümierte Dr. Detlev Fischer, unterstreiche seine 50-jährige Praxis doch insgesamt die Richtigkeit der damaligen Entscheidung gegen ein weiteres Oberstes Bundesgericht.

Detlev Fischer, geb. 1950 in Göttingen, ist in Karlsruhe aufgewachsen und war dort von 1995 bis 2002 als Richter am Oberlandesgericht tätig. Im Anschluss war er Vorsitzender einer Kammer für Handelssachen am Landgericht Karlsruhe. Von 2005 bis 2015 war Detlev Fischer Richter am Bundesgerichtshof. Seit 2005 ist er (ehrenamtlicher) Vorsitzender des Karlsruher Vereins Rechtshistorisches Museum e. V. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu zivilrechtlichen und rechtshistorischen Themen vorgelegt, u. a.: Karlsruher Juristenportraits aus der Vorzeit der Residenz des Rechts (2004); Rechtshistorische Rundgänge durch Karlsruhe – Residenz des Rechts (2005, 3. Aufl. 2017); Eduard Dietz (1866-1940), Vater der Badischen Landesverfassung von 1919, Ein Karlsruher Juristenleben (2008, 2. Aufl. 2012).

Literaturhinweis:
Dr. Detlev Fischer, Rechtshistorische Rundgänge durch Karlsruhe. Residenz des Rechts, 3. Aufl. Karlsruhe 2017 (= Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe, 10).