Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Die erste deutsche Studentenbewegung

Peter Brandt im Vortrag Foto: Werner Daum
Peter Brandt im Vortrag

Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft vor 200 Jahren

17. Oktober 2018, 18 Uhr
Prof. Dr. Peter Brandt

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1 MB)

Die frühe deutsche Burschenschaft in den „Gesprächen am Tor“ – eine emanzipatorische Bewegung jenseits aller Gemeinplätze

Als Einstimmung auf den Vortrag über die Frühgeschichte der deutschen Burschenschaft sahen sich die Besucher im Regionalzentrum Karlsruhe der FernUniversität aufgefordert, „einmal alles zu vergessen, was Sie bisher über sog. ‚schlagende Verbindungen‘ gehört und gewusst haben“. Prof. Dr. Peter Brandt (Prof. i.R., ehem. Lehrgebiet Neuere deutsche und europäische Geschichte, FernUniversität in Hagen) sprach über die Entstehung und Entwicklung der Burschenschaft als Teil einer umfassenden Disziplinierungs-, Moralisierungs- und Reformbewegung im Übergang zur Moderne. Die Herausbildung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft, die am 18. Oktober 1818 in Jena gegründet wurde, machte der Referent als mehrstufigen Prozess verständlich, der vor allem im protestantischen Deutschland unter dem Eindruck der napoleonischen Fremdherrschaft und der Befreiungskriege einsetzte und rasch rund ein Drittel der deutschen Studierenden mobilisierte – die erste deutsche Studentenbewegung mit einem konkreten (verfassungs-)politischen und gesellschaftlichen Reformprogramm zur nationalen und bürgerlichen Erneuerung der deutschen Staatenwelt. Peter Brandt veranschaulichte, wie in der Folge die „erste gesamtdeutsche nationale Organisation des deutschen Bürgertums überhaupt“ alle Kämpfe der liberalen deutschen Nationalbewegung vom Hambacher Fest und Frankfurter Wachensturm über die Progressbewegung bis hinein in die Revolutionen von 1848/49 maßgeblich mit ausfocht. Gegenüber der in den 1880er Jahren einsetzenden rechtsideologischen Umorientierung, die bis heute das Bild mancher Burschenschaften in der Öffentlichkeit bestimmt, betonte Peter Brandt indes die nationalkulturelle, nicht rassistische Motivation, mit der die frühe Burschenschaft auf Distanz gegenüber Juden und „Fremden“ gegangen sei: „Eine antisemitische Konstante in der deutschen Burschenschaftsgeschichte gibt es nicht.“

In der anschließenden längeren Diskussion führten kritische Nachfragen des Publikums zur Vertiefung etlicher Aspekte. Neben der Position der ausschließlich männlich dominierten frühen Burschenschaft zum Verhältnis der Geschlechter ging es etwa auch um die geografische und soziale Reichweite ihrer Nationsvorstellung und den Vergleich mit ähnlichen Bewegungen in anderen europäischen Ländern. Die europäische Perspektive ließ den Kosmopolitismus und Internationalismus der deutschen Burschenschaft vor allem in den 1830er Jahren zutage treten. In der abschließenden Frage nach der Erfolgsbilanz der Burschenschaft überraschte – ganz im Sinne der eingangs vorgeschlagenen Überwindung üblicher Gemeinplätze – der sittenreformerische und politisch-emanzipatorische Gehalt der Bewegung im Kontext der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so sehr dieser in der longue durée durch die spätere Umdeutung und Instrumentalisierung im nationalistischen, rassistischen und antisemitischen Sinne auch kompromittiert erscheinen mag.

Peter Brandt, geb. 1948 in Berlin, 1988 Habilitation mit einer Untersuchung über die Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Burschenschaft im frühen 19. Jahrhundert, 1989 – 2014 Professor für Neuere deutsche und europäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen, dort 2003 – 2017 auch Direktor des interdisziplinären Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften; Publikationsschwerpunkt in den Bereichen Vergleichende europäische Verfassungsgeschichte, Geschichte Nordeuropas, der Staat Preußen, Nationsbildung und Nationalbewegung, die „deutsche Frage“, Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus; Herausgeber des Online-Magazins GlobKult; Mitglied u.a. im Vorstand der Friedrich-Ebert-Stiftung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.

Literaturhinweis:
Peter Brandt, „Freiheit und Einheit“. Beiträge zu den deutschen Freiheits- und Einheitsbestrebungen während des langen 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Neuruppin 2017