Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Zwischen „Friedensdiktat“ und „missglücktem Frieden“

Edgar Liebmann im Vortrag Foto: W. Daum
Edgar Liebmann im Vortrag

Die deutsche Geschichtswissenschaft und der Versailler Vertrag

17. Juli 2019, 18 Uhr
Edgar Liebmann, M.A., Dipl. Wirtsch.-Ing.

Flyer zur Veranstaltung (PDF 993 KB)

Das „Versailler Diktat“ und die Geburt der Zeithistorie – 100 Jahre geschichtswissenschaftliche Debatte über den Versailler Friedensvertrag von 1919

Das bereits von den Zeitgenossen als „Diktat-“ oder „Schandfrieden“ abgelehnte Versailler Vertragswerk von 1919 gilt auch noch in der jüngsten historiographischen Bewertung als „überforderter Frieden“ (Jörn Leonhard), als „große Illusion“ (Eckart Conze) und in jedem Fall als Frieden, der den Keim für den nächsten Krieg bereits in sich getragen habe. Auch im europapolitischen Tagesgeschäft hat diese kritische Betrachtung ihren Niederschlag gefunden: Im Rahmen der Brexitverhandlungen warf der britische Politiker Owen Paterson der EU-Kommission zu Jahresbeginn 2019 vor, den Versailler Vertrag von 1919 als Modell für das beanstandete Austrittsabkommen herangezogen zu haben.

Der somit auf vielfältige Weise geschmähte Versailler Frieden war anlässlich des 100. Jahrestages seiner Unterzeichnung am 28. Juni 1919 Thema der „Gespräche am Tor“ im Regionalzentrum Karlsruhe der FernUniversität in Hagen. Im Fokus stand dabei der Umgang der deutschen Geschichtswissenschaft mit dem Friedensvertrag, den Edgar Liebmann, Doktorand am Historischen Institut der FernUniversität, vor allem aus der Perspektive des damaligen Zeithistorikers Hans Herzfeld (1892-1982) analysierte, dessen Leben und Werk den engeren Gegenstand seiner Promotionsforschungen bildet. Im Einzelnen rekapitulierte der Referent, nach einer Vorstellung der Person und des Wirkens von Hans Herzfeld sowie des inhaltlichen Rahmens des Versailler Vertrages, die Etappen der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Vertragswerk seitens der deutschen Historikerzunft in den letzten 100 Jahren. Diese geriet schon unmittelbar nach Unterzeichnung des Friedensvertrages unter den Einfluss einer Wissenschafts- und Forschungspolitik, die nicht nur auf die Widerlegung der Kriegsschuldthese und Revision der Versailler Bestimmungen abzielte, sondern auch das Konzept der Zeitgeschichte hervorbrachte – eine neue geschichtswissenschaftliche Disziplin, die sich auf besondere Weise mit dem Schaffen Hans Herzfelds, „eines der profiliertesten deutschen Historikers seiner Zeit“ (Gerhard A. Ritter), verband. Edgar Liebmann zeigte auf, wie die von den verschiedenen Historikergenerationen geführte Debatte dem Wandel des Zeitgeistes folgte und in der zweiten Nachkriegszeit in eine deutliche „verbale Abrüstung“ gegenüber dem Vertragswerk von 1919 mündete, wie der Mitschnitt einer Vorlesung Hans Herzfelds von 1957 an der Freien Universität Berlin eindrucksvoll belegt.

Die sich an den Vortrag anschließende lebhafte Aussprache kreiste um manche Spezialfrage des interessierten Publikums, unter dem sich auch ein direkter Nachkomme Hans Herzfelds befand. Im Fokus stand dabei immer wieder die umstrittene Versailler These einer alleinigen Kriegsschuld Deutschlands. So lag es nach den Ausführungen Edgar Liebmanns auf der Hand, dass die anfangs kompromisslose Kritik an jener These sich zwar nach 1945 „milder gestaltet“ hat, wie sich Hans Herzfeld im Tondokument von 1957 ausdrückte. Ihr Wiederaufleben in der jüngeren internationalen Debatte (Christopher Clark, Die Schlafwandler, 2013) scheint allerdings auf grundsätzliche Fragen des Völkerrechts und der Friedensdiplomatie zu verweisen, die nicht Gegenstand dieser Veranstaltung waren. Nichtsdestotrotz lässt die hier thematisierte geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Versailler Vertrag von 1919 die Ergebnisse der Forschungen Edgar Liebmanns über den daran maßgeblich beteiligten Zeithistoriker Hans Herzfeld mit einiger Spannung erwarten.

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