Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

70 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Andreas Haratsch im Vortrag Foto: Werner Daum
Andreas Haratsch im Vortrag

Die Beständigkeit und Anpassungsfähigkeit einer provisorischen Verfassung

16. Oktober 2019, 18 Uhr
Prof. Dr. Andreas Haratsch

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1000 KB)

Die verfassungsgeschichtliche Bilanz einer „atmenden Verfassung“ in den „Gesprächen am Tor“

Zur Stunde Null im westlichen Nachkriegsdeutschland ausgearbeitet und am 23. Mai 1949 beschlossen wurde das Grundgesetz seither 63 Mal verändert. Es hat sich somit als äußerst flexibler Verfassungsrahmen erwiesen, der von Generation zu Generation an die Belange und Problemstellungen des politischen und gesellschaftlichen Lebens zunächst in der BRD, dann in Gesamtdeutschland angepasst werden konnte. An der Ausgestaltung dieser Verfassungswirklichkeit hatte in den vergangenen sieben Jahrzehnten Karlsruhe mit der dort ansässigen hohen Bundesjustiz einen maßgeblichen Anteil. Demnach war es an der Zeit, dass Prof. Dr. Andreas Haratsch, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht und Direktor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften an der FernUniversität in Hagen, dem interessierten Publikum in der „Residenz des Rechts“ seine Bilanz über 70 Jahre Grundgesetz vorlegte.

In seinem Vortrag machte der Referent deutlich, wie sich der Verfassungswandel Deutschlands in den letzten 70 Jahren wesentlich im Spannungsverhältnis zwischen dem Bewahren von Bewährtem und der Anpassung an neue Herausforderungen, zwischen Konservation und Reform vollzog. Er veranschaulichte diese spannungsreiche verfassungspolitische Gratwanderung in einem ausführlichen Rückblick, in dem er die besonders brisanten Etappen des deutschen Verfassungswandels markierte: von der Einführung der Wehrpflicht (1956) und dem Beschluss der Notstandsverfassung (1968) über die Wiedervereinigung (1990) bis hin zur jüngsten Föderalismusreform (2006, 2009 und 2017). Die grundgesetzliche Ordnung sah sich dabei immer auch mit den Bedrohungen des politischen Terrorismus und der organisierten Kriminalität konfrontiert, wie sie etwa im Deutschen Herbst (1977), in den islamistischen Anschlägen vom 9. September 2001 und in der rechtsradikalen Mordserie des sog. „NSU“ (2000-2007) eskalierten. Im Hinblick auf die deutsche Wiedervereinigung betonte Andreas Haratsch, dass die neuen Bundesländer „nicht einfach der BRD, sondern dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten“, das mit diesem Schritt seinen ursprünglichen provisorischen Charakter ablegte. Auch wenn die Verfassung prinzipiell gestärkt aus den geschilderten Bedrohungen hervorging, sieht sie sich unvermindert neuen Herausforderungen gegenüber, die sich aus der durch die fortschreitende europäische Integration und die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche veränderten Grundrechtslage ergeben. Auch gegenüber dem jüngsten Rechtsextremismus, zeigte sich der Referent überzeugt, „wird und muss sich das Grundgesetz bewähren“.

In der anschließenden Diskussion vertiefte das Publikum neben juristischen Aspekten vor allem verfassungspolitische Fragen, die etwa um den umstrittenen Verzicht auf eine gesamtdeutsche Verfassungsgebung anlässlich der Wiedervereinigung oder die komplexe Beziehung zum EU-Recht als Ergänzung oder Aushebelung des Grundgesetzes kreisten. Im ersteren Fall machte der Referent die Aufrechterhaltung des Grundgesetzes bei aller Kritik als nötige Maßnahme verständlich, um die international durchaus gefährdete Wiedervereinigung zum Erfolg zu führen und dem gesamtdeutschen Staat einen stabilen Rahmen zu verleihen. Die Erörterung der europäischen Integration führte zu der überraschenden Erkenntnis, dass deutsche Verfassungsbestimmungen durchaus auch auf das EU-Recht zurückwirken, mithin die Rezeption wechselseitig sei. In jedem Fall hat die Veranstaltung aufgezeigt, dass der „atmende Verfassungsrahmen“ des Grundgesetzes geeignet ist, auch künftigen Herausforderungen durch eine angemessene Anpassung zu begegnen, ohne den grundrechtlichen Kerngehalt anzutasten.

Andreas Haratsch, geb. 1963; 1982-1988 Studium der Rechtswissenschaft in Mainz; 1990/91 Studium an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer; 1992 zweites juristisches Staatsexamen; 1997 Promotion an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 2003 Habilitation an der Universität Potsdam; 2003-2005 wissenschaftlicher Referent am Zentrum für Europäische Integrationsforschung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; ab Wintersemester 2005/06 Vertreter, seit 2007 Prof. und Inhaber des Lehrstuhls Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht an der FernUniversität in Hagen; 2008/09 Gastprofessor an der Doshisha Law School, Kyoto/Japan; seit 2017 Direktor des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen; im Sommersemester 2019 Gastprofessor an der Universität La Sapienza, Rom/Italien; Publikationsschwerpunkte im Staats- und Verfassungsrecht, im Recht der europäischen Integration und den Grund- und Menschenrechten.

Forschungsprofil des Lehrstuhls von Prof. Dr. Andreas Haratsch