Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Stephan A. Glienke im Online-Vortrag (Foto: W. Braun)

NS-Justizverbrechen zwischen Aufarbeitung und Kaltem Krieg -

Beispiele „ungesühnter Nazijustiz“ in Karlsruhe und anderswo im Musterländle

17. Juni 2020, 18 Uhr
Dr. Stephan Alexander Glienke

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1013 KB)

Die NS-Vergangenheitsbewältigung in den „Gesprächen am Tor“: „Blutrichter“ im südwestdeutschen Justizdienst und der Umgang mit ihnen im Zeichen des Kalten Krieges

„Was damals Unrecht war, blieb auch nach 1945 Unrecht!“ Damit brachte Dr. Stephan Alexander Glienke (Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Regionale Zeitgeschichte und Public History der Universität Flensburg) gleich zu Beginn seines Vortrags die heutige Beurteilung des NS-Unrechts auf den Punkt – in Abwandlung der bekannten Entschuldigungsformel Hans Filbingers, mit der dieser als langjähriger Ministerpräsident Baden-Württembergs (1966-1978) seine Justizverbrechen während des Nationalsozialismus zu verharmlosen pflegte. Bekanntlich konnten viele der deutschen Richter, die während des Nationalsozialismus mit mind. 35.000 Todesurteilen das Unrechtsregime maßgeblich stabilisiert hatten, nach Kriegsende ihre Arbeit nicht nur in der Politik, sondern auch im Justizdienst der jungen Bundesrepublik fortsetzen. Dies gilt auch für etliche Juristen, die nach 1945 in der südwestdeutschen und auch Karlsruher Rechtsprechung tätig waren, wie der Referent dem online zugeschalteten Publikum beispielhaft an einzelnen Karrierewegen aufzeigte.

Die im November 1959 in Karlsruhe eröffnete studentische Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ machte zwar erstmals auf diesen Skandal aufmerksam, stieß aber im Zeichen des Kalten Krieges zunächst auf die Gegenwehr höchster Politik- und Justizkreise der Adenauerrepublik, welche – mit rühmlicher Ausnahme des damaligen Generalbundesanwalts Max Güde – diese Dokumentation des NS-Unrechts als DDR-Propaganda diffamierten. In der Tat hatte der andere deutsche Staat im Rahmen einer breit angelegten „Blutrichter-Kampagne“ seit 1957 auf belastete Richter im BRD-Justizdienst namentlich hingewiesen. Den in den 1960er Jahren einsetzenden Wandel im Umgang mit der NS-Belastung einzelner Richter beurteilte Glienke für das südwestdeutsche „Ländle“ als „etwas ambivalent“. So nahm die NS-Strafverfolgung zwar zu, zugleich „wollte [man] diese Juristen loswerden, man wusste nur nicht wie“. Als Ausweg aus diesem Dilemma erlaubte eine Erweiterung des Richtergesetzes (§ 116) vorbelasteten Richtern 1961/62 den geräuschlosen Wechsel in den Vorruhestand (bei weiterem Erhalt ihrer Bezüge). Eine ernstgemeinte und auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Justiz und ihrer personellen Kontinuität in der Bundesrepublik setzte erst Jahrzehnte später ein. Sie kommt etwa im „Rosenburg-Projekt“ des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zum Ausdruck, dessen Ergebnisse über die NS-Belastung dieses Ministeriums in einer Wanderausstellung dokumentiert werden, die – mit der Pandemie geschuldeten Verzögerung – im Frühjahr 2021 in Karlsruhe im Rahmen der „Gespräche am Tor“ gezeigt werden soll.

Im Zentrum der sich an den Vortrag Glienkes anschließenden virtuellen Diskussion stand die Qualität der deutschen Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungspolitik. Wird diese im internationalen Rahmen eher als vorbildhaft betrachtet, so legen jüngere innenpolitische Entwicklungen (Zunahme rechtsextremistischer Erscheinungen seit der Mordserie des sog. NSU) den Schluss nahe, dass Versäumnisse und Vertuschungsstrategien nicht auf die Frühphase der Bundesrepublik beschränkt blieben, sondern bis heute anhalten. Auch mag der innerdeutsche Systemkonflikt während des Kalten Krieges die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht geschmälert haben. Schließlich wies der Referent auf den etwa in afrikanischen Ländern erkannten Mangel in der Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen hin, der in jüngerer Zeit die Qualität der deutschen Erinnerungspolitik im internationalen Rahmen in Frage stellt.

Stephan A. Glienke, geb. 1974; Zeithistoriker und Politikwissenschaftler; Studium an den Universitäten Hannover und Roskilde, Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Universität Hannover, Forschungstätigkeit am Centre for the Study of War, State and Society der Universität Exeter, Forschungstätigkeit für die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen im Auftrag des Präsidenten des Niedersächsischen Landtags, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Regionale Zeitgeschichte und Public History der Europa-Universität Flensburg; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte in den Bereichen der Justizgeschichte, der rechtsstaatlichen Entwicklung in der Bundesrepublik, der Geschichte des Parlamentarismus und der Gruppenbiografien sowie zu Luftkrieg, zur Gesellschaft und Verwaltung im Krieg und zu Geschichtsbildern.

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