Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Dirk Kuhlmann im Online-Vortrag Foto: Werner Daum
Dirk Kuhlmann im Online-Vortrag

Feindbild, Vorbild, Schlüssel -

zur Wahrnehmung des Christentums und seiner Funktion in geschichts- und soziopolitischen Diskursen im heutigen China

15. September 2021, 18 Uhr
Dr. Dirk Kuhlmann

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1003 KB)

Das Christentum in China – die sich wandelnde Wahrnehmung einer längst heimisch gewordenen Glaubensrichtung in den „Gesprächen am Tor“

Als ursprünglich „fremde“ Religion konnte das Christentum in China zwar seit der ausgehenden Antike Wurzeln schlagen und einheimische Glaubensformen ausbilden; dennoch steht es dort bis heute im Fokus des öffentlichen Diskurses über Identität und Alterität, Zugehörigkeit und Fremdheit. Diese Feststellung bildete den Anlass für eine komplexe Analyse der Wahrnehmung des Christentums in China, in der Dr. Dirk Kuhlmann (Institut Monumenta Serica, Sankt Augustin) mehrere analytische Ebenen miteinander verschränkte. Mit ihrer Thematisierung der globalen Aspekte von Kirche und Religion stimmte die Veranstaltung auf die 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Karlsruhe ein, die pandemiebedingt ins Folgejahr verschoben worden war.

Als konzeptionellen Ausgangspunkt seiner Analyse identifizierte Dirk Kuhlmann in der Wahrnehmung des Christentums in China drei vorherrschende Deutungsmuster: das Feindbild (das Christentum als „kulturelle Aggression“), das Vorbild (das Christentum als „Modernisierung“) und der Schlüssel (das Christentum als die westliche und östliche Kultur erschließender „kultureller Austausch“). Die sich daran anschließenden Ausführungen gingen der Relevanz dieser drei Deutungsmuster über drei interpretative Horizonte nach. Zunächst betrachtete Dirk Kuhlmann das historische Geschehen, anhand dessen er den Wandel in der Wahrnehmung des Christentums von einer christlichen Nestorianer-Gemeinschaft im China der Spätantike über den frühneuzeitlichen „Riten-Streit“ zwischen Dominikanern und Jesuiten bis hin zu den konfliktreichen Auseinandersetzungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufzeigte. In seiner zweiten analytischen Perspektive untersuchte der Referent die Entwicklung der religionspolitischen Ansätze in der VR China vom „offensiven, totalitären Ansatz“ der Mao-Ära (1949-1979) über die von einem freieren, pragmatischen Religionsdiskurs geprägte Reform-Ära (1979-2012) bis hin zur jüngsten Re-Ideologisierung und Reglementierung in der Post-Reform-Ära unter Xi Jinping (seit 2012). Im dritten Schritt nahm sich Dirk Kuhlmann schließlich die Wahrnehmung des Christentums in drei zentralen Leitmedien der chinesischen Geschichtswissenschaften vor, wo das während der Mao-Ära noch dominierende Deutungsmuster des Feindbilds in der Reform-Ära zunächst durch das Muster des Vorbildes ergänzt wurde, bevor dann seit den 1990er Jahren das dem offenen Kulturtransfer aufgeschlossene Deutungsbild des Schlüssels überwog. Somit verdichtete sich die über drei Ebenen verschränkte Analyse der Deutungsmuster im Ergebnis zu einer positiven Prognose für die Wahrnehmung des Christentums im heutigen China, die zumindest im akademisch-wissenschaftlichen Diskurs weiterhin dem offenen Muster des Kulturtransfers verpflichtet bleibt.

Der anschließende Austausch mit dem zahlreich zugeschalteten Publikum kreiste zunächst um die Frage nach der Bewertung des Protestantismus, der im Vergleich zum Katholizismus etwa auch durch die chinesische Rezeption Max Webers eine höhere Attraktivität in intellektuellen Kreisen genießt. Auch die neueren Ansätze zur Deutung der Taiping-Rebellion (1851-1864) wurden thematisiert, die nun die religiösen Elemente dieser Bewegung hervorheben. Weiterhin überraschte die anti-christliche Haltung der „Neuen Kulturbewegung“ und der „Vierte-Mai-Bewegung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die durch den Umstand konterkariert wurde, dass etliche prominente Führungspersönlichkeiten der chinesischen Nationalbewegung Christen waren. Schließlich erörterten die Diskutanten auch die ganz andere Bewertung des Buddhismus im heutigen China, wo dieser eher als „Vorbild der Sinisierung“ gilt.

Dirk Kuhlmann, geb. 1972, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor in der Redaktion des Instituts Monumenta Serica in Sankt Augustin bei Bonn. Er studierte Gegenwartsbezogene Sinologie, Klassisches Chinesisch und Geschichte an der Universität Trier und promovierte dort im Jahr 2011. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Chinas in der späten Qing- und frühen Republikzeit, akademische Diskurse zur Geschichte des Christentums in China sowie Fragestellungen zu Identität und Alterität. Darüber hinaus beschäftigt er sich in jüngerer Zeit mit der Funktion von Mythen in der sinophonen Literatur indigener Autoren Taiwans. Er ist u.a. Autor des Buches: „Das Fremde im eigenen Lande“. Zur Historiographie des Christentums in China von Liang Qichao (1873–1929) bis Zhang Kaiyuan (geb. 1926), Sankt Augustin 2014 (= Monumenta Serica Monograph Series 65).

Hinweise auf weiterführende Ressourcen:

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