Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Prof. Dr. Peter Brandt und Dr. Werner Daum im Gespräch Foto: FernUniversität in Hagen

Wandel durch Annäherung? Zur Aktualität der „Alten Ostpolitik“ im Zeitalter der multipolaren Globalität:

ein Autorengespräch mit Lesung

01. Juni 2022, 18 Uhr
Prof. Dr. Peter Brandt im Gespräch mit Dr. Werner Daum

Flyer zur Veranstaltung (PDF 1004 KB)

Zur aktuellen Eignung der Neuen Ostpolitik und der Brisanz unveröffentlichter Bücher – ein Karlsruher Autorengespräch mit Peter Brandt

„Der Regierende Bürgermeister von Berlin (West), Willy Brandt, hielt es nicht für opportun, diese ziemlich weitreichenden und für damalige Verhältnisse manche Tabus auch überwindenden oder in Frage stellenden Überlegungen von Egon Bahr […] an die Öffentlichkeit zu bringen“. Mit dieser Erläuterung zielte Prof. i.R. Dr. Peter Brandt (FernUniversität in Hagen, Historisches Institut) auf das 1966 unveröffentlicht gebliebene Manuskript „Was nun?“, in welchem der damalige Pressesprecher des Westberliner Senats, Egon Bahr, erste konzeptionelle Überlegungen einer „Neuen Ostpolitik“ vorgelegt hatte, die erst 2019 ihre (postume) Veröffentlichung finden sollten. Und auch die jüngste Festschrift zum 100. Geburtstag Egon Bahrs harrt seit März 2022 ihrer Publikationsfreigabe, „was mit der Einflussnahme von höherer Politik zu tun hat“, womit der Mitherausgeber die aktuell durch den Krieg gegen die Ukraine ausgelöste zögernde und zweifelnde Haltung der SPD-Führung gegenüber den historischen Leistungen der eigenen Partei ansprach.

Beide bei ihrer Entstehung als so brisant geltende Schriften waren Teil einer literarischen Zeitreise, mit der die Karlsruher Veranstaltung eine historische Einordnung und aktuelle Bewertung der Neuen Ostpolitik unternahm. Mit dieser hatten bekanntlich Egon Bahr (1922-2015) und Willy Brandt (1913-1992) seit Beginn der 1960er Jahre einen „Wandel durch Annäherung“ gegenüber dem sog. Ostblock (inkl. der DDR) eingeleitet, der langfristig den Weg zur deutschen Wiedervereinigung ebnete. Anlässlich des 100. Geburtstags Egon Bahrs im März des Jahres und dem 50. Jahrestag der wichtigen Ostverträge mit Polen und der Sowjetunion (3. Juni 1972) thematisierte das Autorengespräch mit Peter Brandt die historischen Hintergründe und die aktuelle Bedeutung der alten „Neuen Ostpolitik“ in vier Zeitabschnitten, zu denen Peter Brandt jeweils einen entsprechenden Schlüsseltext verlas: Nach den konzeptionellen Ursprüngen der Neuen Ostpolitik in den 1960er Jahren ging es um deren diplomatische Umsetzung und außenpolitische Konkretisierung in den 1970er Jahren, dann um ihren scheinbaren Bedeutungsverlust im „Neuen Kalten Krieg“ zu Beginn der 1980er Jahre sowie den erneuten Erfolg im Zuge der internationalen Entspannung und deutschen Wiedervereinigung in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts; dieser Zeitparcours mündete schließlich in eine Bewertung der aktuellen Eignung des Konzepts eines „Wandels durch Annäherung“ in unserer globalisierten und von multipolaren Machtstrukturen gekennzeichneten Welt.

Die anschließenden Kommentare des online zugeschalteten und des auf dem Campus Karlsruhe versammelten Publikums bezogen sich unter dem maßgeblichen Eindruck des anhaltenden Kriegs gegen die Ukraine auf das zuletzt im Autorengespräch thematisierte Verhältnis zu Russland. Dabei bekräftigte Peter Brandt seine diesbezügliche Überzeugung, „dass die Chance von 1989/90 nicht genutzt wurde, zu einer Sicherheitsstruktur zu kommen, die Russland einschließt“. Zugleich wurde aber auch klar, dass die aktuelle Weltlage über Russland hinaus auf weitere Gegenspieler „des Westens“ verweist. Während Egon Bahr Mitte der 1960er Jahre noch an ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem dachte, womit er seiner Zeit gewiss weit voraus war, läuft die heutige Herausforderung in geografischer Erweiterung und qualitativer Steigerung auf die Frage hinaus, ob und wie in einer von unterschiedlichen Verfassungs- und Rechtstraditionen gekennzeichneten Welt überhaupt noch westliche Wertvorstellungen wie die Stärke des Rechts gegenüber dem Recht des Stärkeren durchsetzbar seien – was aufgrund seiner Komplexität zunächst unbeantwortet bleiben musste, mit Blick auf China aber bei den nachfolgenden Veranstaltungsterminen aufzugreifen ist.

Peter Brandt, geb. 1948 in Berlin, 1989–2014 Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der FernUniversität in Hagen, dort 2003–2017 auch Direktor des interdisziplinären Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften, seither Ehrendirektor ebd.; Publikationsschwerpunkte in den Bereichen Vergleichende Europäische Verfassungsgeschichte, Geschichte Nordeuropas, der Staat Preußen, Nationsbildung und Nationalbewegung, die „deutsche Frage“, Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus; Mitglied u.a. im Vorstand der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Schlüsseltexte zur Lesung im Autorengespräch:

  • Egon Bahr, Was nun? Ein Weg zur deutschen Einheit (1965/66), hg. v. Peter Brandt u. Jörg Pache, Berlin 2019. [Verlagsprospekt]
  • Peter Brandt/Hans-Joachim Gießmann/Götz Neuneck (Hg.), „…aber eine Chance haben wir“. Zum 100. Geburtstag von Egon Bahr, Bonn 2022 [Ankündigung des Verlags J.H.W. Dietz Nachf., Bonn].
  • Peter Brandt, 23. Von der Nachrüstungsdebatte zur deutschen Einigung (1976-1990), in: ders./Dieter Groh, „Vaterlandslose Gesellen“. Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992, S. 309-334.
  • Peter Brandt/Günter Minnerup, Osteuropa und die Deutsche Frage, in: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 34 (1987), S. 722-734 (Ndr. in: Peter Brandt, Schwieriges Vaterland, Berlin 2001, S. 254-272).
  • Peter Brandt, Das Verhältnis zu Russland – Kern-Frage des Friedens in Europa, in: GlobKult 29.09.2020 (online: https://www.globkult.de/politik/welt/1951-das-verhaeltnis-zu-russland-kern-frage-des-friedens-in-europa).

Zur Aufzeichnung des Autorengesprächs

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