Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Dr. Volker Steck im Vortrag Foto: FernUniversität
Dr. Volker Steck im Vortrag

Das demokratische Gedächtnis –

Karlsruher Ständehaus und Frankfurter Paulskirche als Erinnerungsorte der deutschen Demokratiegeschichte

10. Mai 2023, 18 Uhr
Podiumsgespräch mit Dr. Volker Steck (Erinnerungsstätte Ständehaus Karlsruhe) und Dr. Markus Häfner (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M.)

Flyer zur Veranstaltung (PDF 981 KB)

Eine Veranstaltung der Gespräche am Tor in Kooperation mit dem Förderverein FORUM RECHT e.V., Karlsruhe und Leipzig und dem Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften an der FernUniversität in Hagen.

175 Jahre Erinnerung an die Revolutionen von 1848/49 – ein Dialog zwischen Karlsruhe und Frankfurt

Das öffentliche Gedenken rund um den 175. Jahrestag der Revolutionen von 1848 gab den Anlass zur näheren Betrachtung zweier Erinnerungsorte der deutschen Demokratiegeschichte: des badischen Ständehauses in Karlsruhe und der Paulskirche in Frankfurt a.M. Gemeinsam führten die Campusstandorte Karlsruhe und Frankfurt eine Hybridveranstaltung durch. Neben Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den beiden Orten hatten sich auch zahlreiche Zuhörerinnen und Zuhörer über das Internet zugeschaltet.

Im Zentrum der Impulsvorträge von Dr. Volker Steck (Erinnerungsstätte Ständehaus Karlsruhe) und Dr. Markus Häfner (Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M.) stand der Wandel der Erinnerungskulturen, die sich seit 1848 um das erste Parlamentsgebäude auf deutschem Boden (Karlsruher Ständehaus) und die Tagungsstätte des ersten gesamtdeutschen Parlaments (Frankfurter Paulskirche) entwickelten, wobei sie bis heute von mancher öffentlichen Kontroverse begleitet werden.

Haefner-2023Foto: FernUniversität
Dr. Markus Häfner im Vortrag

Zunächst bot Dr. Volker Steck als langjähriger Leiter der Karlsruher „Erinnerungsstätte Ständehaus“ einen fundierten Überblick zur historischen Bedeutung des badischen Landtags im Rahmen der badischen Parlaments- und Demokratiegeschichte von 1818 bis 1933, um dann für die Nachkriegsjahrzehnte den langwierigen Diskussionsprozess für den Wiederaufbau des Neuen Ständehauses (eröffnet 1993) nachzuzeichnen. Weiterhin stellte der Referent die thematischen Schwerpunkte der im Neuen Ständehaus beherbergten und seit 30 Jahren unveränderten Dauerausstellung vor (badische Verfassung und Parlament, Vormärz, Revolution 1848/49, Revolution 1918/19, Verfolgung von Parlamentariern im Nationalsozialismus), um seinen Impulsvortrag mit einem Ausblick auf die jüngst eröffnete Perspektiven für eine Weiterentwicklung der Erinnerungsstätte zu beschließen.

Auf Frankfurter Seite erörterte Dr. Markus Häfner einleitend die Bedeutung der Paulskirche und der dort tagenden deutschen Nationalversammlung für die Revolution von 1848/49. Er verwies auf die Bedeutung der Paulskirche als nationales Symbol, das in der Weimarer Republik von Reichspräsident Ebert aufgegriffen wurde. Daran schloss der Ausstellungs- und PR-Experte des Frankfurter Stadtarchivs eine Analyse des erinnerungspolitischen Funktionswandels der Paulskirche an, wobei er ihren Bedeutungswandel nach dem Wiederaufbau und bis in die Gegenwart hinein verständlich machte. Er illustrierte dies mit Bildern von Reden des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, Preisverleihungen an Thomas Mann und Judith Butler und Ansprachen des aktuellen Bundespräsidenten. Abschließend zeigte der Referent die Neukonzeption der Frankfurter Erinnerungsstätte im Rahmen aktueller Entwicklungen auf, wobei das in Nachbarschaft zur Paulskirche geplante „Haus der Demokratie“ und die 2021 gegründete Bundesstiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“ im Zentrum standen.

Das online zugeschaltete und auf dem Campus Frankfurt und dem Campus Karlsruhe der FernUniversität in Präsenz versammelte Publikum nahm beide Impulsvorträge zum Anlass für sachliche Nachfragen und kritische Kommentare. So vertiefte der Austausch etwa die aktuelle Perspektive für eine Neukonzeption der Karlsruher Erinnerungsstätte, die sich in räumlicher Hinsicht durch bauliche Veränderungen in der unmittelbaren Nachbarschaft und auf inhaltlicher Ebene im Kontext einer weiteren, gerade entstehenden Bundesstiftung bieten könnte: dem Forum Recht Karlsruhe-Leipzig.

Das Frankfurter Publikum hinterfragte die Eignung der Paulskirche als Erinnerungsort für die demokratische Tradition Deutschlands, mit welcher der dort 1849 beschlossene Verfassungsentwurf nicht eindeutig zu identifizieren sei. Etliche Abgeordnete waren 1848/49 nicht an einer echten Demokratisierung der Gesellschaft interessiert, sondern favorisierten liberale Politikmodelle, welche dem Bürgertum politische Privilegien einräumten (z.B. ungleiches Wahlrecht). Erst unter dem Druck der Verhältnisse waren diese Abgeordneten im Verlauf der Revolution zu Kompromissen bereit und akzeptierten das von der politischen Linken geforderte allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für alle volljährigen Männer. Deshalb wurde in der Diskussion vom Frankfurter Publikum gefragt, wie sehr die Paulskirche ein demokratischer oder nicht vielmehr ein parlamentarischer Erinnerungsort sei: Wirklich Wiege der Demokratie? Nein, Wiege der Verfassung!

Auf Karlsruher Seite betrachtete man hingegen – unter Verweis auf die fortschrittliche badische Verfassung von 1818, die dortige radikaldemokratische Revolutionsvariante von 1848/49 (Friedrich Hecker, Gustav Struve) sowie die langwährende demokratische Parlamentskultur während der Weimarer Republik – eine demokratische Traditionsbildung als gerechtfertigt. Im Vergleich beider Erinnerungsorte machte der lebhafte Austausch mit dem Publikum somit auch auf die unterschiedliche räumliche Reichweite nicht nur des Revolutionsgeschehens von 1848/49, sondern auch der nachfolgenden Erinnerungskultur aufmerksam: So überwog und überwiegt vielleicht noch immer rund um das Karlsruher Ständehaus die regionalstaatliche, badische Identitätsstiftung, auch wenn die dortige demokratische Tradition immer wieder eine gesamtdeutsche Ausstrahlungskraft entfaltete; dagegen verknüpft sich die Frankfurter Paulskirche kontinuierlich mit einem mindestens nationalstaatlichen, in Gestalt der Volksvertreter aus den „großdeutschen“ Randzonen sogar nach Europa ausgreifenden Geltungsradius.

Volker Steck, geb. 1962, Stadthistoriker im Stadtarchiv Karlsruhe, Leiter der Erinnerungsstätte Ständehaus; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte im Bereich der Karlsruher Stadtgeschichte und der südwestdeutschen Landesgeschichte.

Markus Häfner, geb. 1980, seit 2016 Leiter der Abteilung Public Relations im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main mit den Bereichen Ausstellungen, Vermittlung, Veranstaltungen, Bibliothek und Lesesaal; zuvor als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Goethe-Universität mit der Entwicklung neuer Lehrformate und eLearning-Anwendungen befasst. Arbeits- und Publikationsschwerpunkte auf dem Gebiet der Stadtgeschichte und als Kurator von Ausstellungen in Hanau, Wiesbaden, Frankfurt am Main sowie 2022 von zwei Ausstellungsprojekten zur Revolution 1848/49 in Frankfurt und zur Geschichte der Paulskirche.

Weiterführende Ressourcen:

Zur Aufzeichnung des Vortrags (.mp4-Datei)

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