Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur

Prof. Dr. Sabine Liebig im Online-Vortrag Foto: FernUniversität
Prof. Dr. Sabine Liebig im Online-Vortrag

Zuwanderung als historischer Regelfall und aktuelle Herausforderung

Ohne Migration kein Karlsruhe

15. November 2023, 18 Uhr
Prof. Dr. Sabine Liebig

Flyer zur Veranstaltung (PDF 129 KB)

„Ohne Migration wären wir jetzt nicht hier“ – Migration nach Karlsruhe und Deutschland in historischer Perspektive

„Menschen wandern, seitdem es Menschen gibt“ – mit dieser Feststellung eröffnete Prof. Dr Sabine Liebig (Pädagogische Hochschule Karlsruhe) ihren konzisen und dennoch detailreich veranschaulichten historischen Überblick zum komplexen Thema der Migration. Anlässlich des 50. Jahrestags des sog. bundesweiten Anwerbestopps am 23. November 1973 hatten die „Gespräche am Tor“ zu einer Reflexion über die historische Bedeutung des Themas am Beispiel der Karlsruher Stadtgeschichte eingeladen, um manche Kurzschlüsse der tages- und parteipolitisch aufgeladenen Migrationsdebatte zu hinterfragen.

Nach einer kurzen Einordnung des Migrationsthemas, insbesondere der Arbeitsmigration, in den globalgeschichtlichen Forschungskontext machte die Referentin in einem mit historischem Bildmaterial veranschaulichten Rundgang durch die Karlsruher Stadtgeschichte den enormen Einfluss verständlich, den Migration auf die Entwicklung der 1715 auf dem Reißbrett geplanten Fächerstadt unmittelbar bei ihrer Gründung und in der weiteren Stadtgeschichte hatte. Hierbei schilderte sie die sowohl auf Privilegien (Steuerbefreiung, Befreiung von Leibeigenschaft) als auch auf Verpflichtungen (Eigenkapital, Hausbau) beruhende Politik der „Anlockung“ der ersten Einwohner. Durch die Zuwanderung aus dem Ausland (wozu lange auch Württemberg zählte) und der ländlichen Umgebung erwarb sich Karlsruhe bald einen „internationalen Anstrich“, ohne seine Bodenständigkeit zu verlieren.

Im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen standen dann die Lebenswelt der – in Abgrenzung zum NS-Begriff der „Fremd- und Zwangsarbeiter“ – sog. „Gastarbeiter“ und „Gastarbeiterinnen“ in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit und die Folgen des Anwerbestopps von 1973. Differenziert schilderte Sabine Liebig sowohl den Umgang der westdeutschen Aufnahmegesellschaft mit der Zuwanderung als auch die Haltung der Migrantinnen und Migranten in der Fremde, wobei sie sich neben historischem Bildmaterial auch auf die Auswertung einer umfangreichen städtischen Erhebung aus jener Zeit stützte. Dabei machte die Referentin auch auf frauen- und geschlechtergeschichtliche Erkenntnisse aufmerksam, welche die Migrationsforschung erst seit den 1990er Jahren bereichern. Als Hintergrund des Anwerbestopps von 1973 machte Liebig die Tatsache geltend, „dass Wirtschaft und auch große Teile von Politik und Gesellschaft die Gastarbeiter*innen ausschließlich als Arbeitskräfte gesehen haben und nicht als Menschen“. In der Folge entwickelte sich die Bundesrepublik durch den Familiennachzug faktisch dennoch zum Einwanderungsland. Während für Karlsruhe immer eine positive Wanderungsbilanz festzustellen ist, kehrten in der gesamtdeutschen Bilanz von den im Zeitraum 1950-1970 eingewanderten ca. 14 Mio. Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen etwa elf Mio. Migranten und Migrantinnen – mitunter erst nach längeren Aufenthalten – in ihre Heimatländer zurück. Erst nachdem die deutsche Politik 2005 Deutschland als Einwanderungsland anerkannt hatte, begann eine intensivere Integrationsdebatte, die verspätet kam und auf politischer Ebene mitunter unter Missachtung der neuesten Erkenntnisse der Migrationsforschung geführt wird. Daher erinnerte Sabine Liebig abschließend an die grundgesetzlich geschützte Würde des Menschen, die auch für Migrantinnen und Migranten gilt.

Der anschließende Austausch mit dem in Präsenz erschienenen und online zugeschalteten Publikum vertiefte vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsdebatte einige im Vortrag thematisierte Aspekte. So wurde deutlich, dass migrationspolitische Steuerungsversuche kein aktuelles Unterfangen sind, sondern etwa auch bei der Karlsruher Stadtgründung (Niederlassungserlaubnis nur mit Eigenkapital) eine Rolle spielten. Auch das seit der Jahrtausendwende in der Migrationsforschung diskutierte neue Integrationsverständnis wurde angesprochen, nach dem nicht mehr die einseitige Assimilation der Migranten und Migrantinnen eingefordert wird, sondern auch die Aufnahmegesellschaft aufgerufen ist, an der Integration als „wechselseitigem langfristigem Teilhabeprozess“ (Sabine Liebig) mitzuwirken – hierzu wünschte man sich eine deutlichere Kommunikation und Aufklärung seitens der politischen Ebene in die Gesellschaft hinein.

Sabine Liebig, geb. 1964, war nach ihrer historischen Promotion an der PH Weingarten zunächst als Wissenschaftliche Assistentin an der Universität Hannover tätig; seit 2004 lehrt sie Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik an der PH Karlsruhe. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen neben der Geschichtsdidaktik und Fragestellungen der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (insbesondere auch zur jüdischen Geschichte) auf den Feldern der Migrationsgeschichte und der Gender Studies. So hat sie neben Publikationen etwa zur Geschichte des Frauenwahlrechts auch Studien zur Migration sowohl in ihrer globalgeschichtlichen Ausprägung als auch im Karlsruher Kontext vorgelegt.

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