Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
„Rettet die Kinder“ –
ein anderer Blick auf die Geschichte des Lagers Gurs vor 85 Jahren
22. Oktober 2025, 18 Uhr
Brigitte und Gerhard Brändle
Flyer zur Veranstaltung (PDF 155 KB)
Die Deportationen nach Gurs vor 85 Jahren – Gerettete und Retter im Fokus
Unter den Augen der schaulustigen Bevölkerung verbrachten am 22. Oktober 1940 Polizisten und andere Schergen des nationalsozialistischen Regimes 945 jüdische Einwohner Karlsruhes am dortigen Hauptbahnhof in Züge nach Südfrankreich. Es handelte sich um eine konzertierte Aktion unter der Regie Reinhard Heydrichs und Adolf Eichmanns zur Deportation 6.500 jüdischer Menschen aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das Lager Gurs am Nordrand der Pyrenäen. Zum 85. Jahrestag dieser Verschleppung rückte die Veranstaltung weniger die Täter und Opfer als vielmehr die bisher eher vergessenen Geretteten und ihre Retterinnen und Retter in den Fokus.
In der Tat – Brigitte und Gerhard Brändle konnten anhand ihrer Forschungsergebnisse zu den 563 aus dem deutschen Südwesten nach Gurs deportierten Kindern und Jugendlichen nachweisen, wie 418 von ihnen überlebten. Durch ihre in minutiöser Archivarbeit gewonnenen Erkenntnisse und anhand eigens erhobener sowie filmisch durch den Regisseur Dietmar Schulz dokumentierter Zeitzeugenaussagen veranschaulichten die Referenten die Erfahrung von Verschleppung, Flucht und Emigration der Kinder und ihrer Retterinnen und Retter. Dabei präsentierten sie die Lebenswege von mehreren der 84 aus Karlsruhe deportierten Kinder, von denen 57 gerettet wurden, und von rund 100 ihrer Retter. Die Kinder wurden durch (auch jüdische) Hilfsorganisationen und das persönliche Engagement einzelner Retter unter Zustimmung ihrer ebenfalls in Gurs inhaftierten Eltern aus dem Lager verbracht, in Heimen, Waisenhäusern, kirchlichen Einrichtungen und Familien versteckt, um schließlich in die Schweiz, nach Spanien oder (auf Initiative der Quäker) in die USA in Sicherheit gebracht zu werden. Einige Kinder überlebten, indem sie sich selbst der Résistance anschlossen. Viele Retter (mehrheitlich Frauen und etliche Anhänger der Résistance) bezahlten diesen Einsatz mit ihrer Verfolgung, Inhaftierung und Ermordung in den Vernichtungslagern.
Mit ihrer langjährigen Forschungsarbeit ist es Brigitte und Gerhard Brändle gelungen, ein bisher im Zusammenhang mit der Geschichte des Lagers Gurs vernachlässigtes „Rettungswerk“ nachzuweisen, wodurch die Geretteten und ihre Retterinnen und Retter nach über acht Jahrzehnten ein Gesicht erhalten. Das eigentliche Hindernis dieses humanitären Projekts identifizierte Gerhard Brändle jedoch mit der zögerlichen und widerstrebenden Haltung der Aufnahmeländer: „Nicht die Vichy-Regierung hat nämlich die Ausreise verhindert, sondern mögliche Einreiseländer verweigerten die Rettung!“ Und auch der justizielle Umgang mit den für die Weiterverschleppung eines Teils der Kinder nach Auschwitz verantwortlichen Täter, namentlich also auch mit schuldig gewordenen Angehörigen der Wehrmacht, verbuchte Brigitte Brändle unter den Schattenseiten der jungen Bundesrepublik: „Die Genannten und weitere Verantwortliche wurden nach 1945 nie belangt!“ (Brigitte Brändle) Angesichts dieser beiden schwerwiegenden historischen Versäumnisse schlossen die Referenten mit einer dringenden, auf den rechtsextremistischen Aufschwung und die globalen Migrationsvorgänge unserer Gegenwart abzielenden Handlungsempfehlung: „Es gibt zu tun, in mehrfacher Hinsicht: im Archiv, im Saal und auf der Straße, wenn es sein muss!“
Weiterführende Ressourcen:
- Brigitte Brändle/Gerhard Brändle, Jüdische Kinder im Lager Gurs: Gerettete und ihre Retter*innen. Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung, hg. v. Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, Karlsruhe 2020.
- Brigitte Brändle/Gerhard Brändle, Jüdische Kinder im Lager Gurs: Gerettete und ihre Retter*innen. Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung, hg. v. Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, laufend erweiterte Online-Veröffentlichung: https://irg-baden.de/files/download/irg%20baden/IRG-210525-IRG-Baden-Hrsg-Dokumentation-Br%C3%A4ndle-Gurs-Gerettete-und-ihre-Retterinnen-online.pdf .
- Brigitte Brändle/Gerhard Brändle, Rettet die Kinder. Ein anderer Blick auf das Lager Gurs, in: Blick in die Geschichte Nr. 128 vom 25. September 2020, online: https://stadtgeschichte.karlsruhe.de/stadtarchiv/blick-in-die-geschichte/ausgaben/blick-128/lager-gurs .
- Vivette Samuel, Die Kinder retten, a. d. Frz. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M. 1999 (frz. Original: Sauver les enfants, Paris 1995): Verlagshinweis .
- Kurt Salomon Maier, Unerwünscht: Kindheits- und Jugenderinnerungen eines jüdischen Kippenheimers, Ubstadt-Weiher 2017; Verlagsprospekt: https://verlag-regionalkultur.de/buecher/juedische-geschichte/unerwuenscht .
- Arno Lustiger, Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011: Rezensionen.
- Josef Werner, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich. Badenia Verlag, 2. Auflage Karlsruhe 1990 (= Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Band 9), online: https://stadtgeschichte.karlsruhe.de/fileadmin/user_upload/07_Mandantenseiten/Stadtarchiv/05_Stadtgeschichte/04_Publikationen/Vergriffene/Hakenkreuz_und_Judenstern.pdf .
- Gedenkbuch für die Karlsruher Juden, online: https://gedenkbuch.karlsruhe.de/start .
Die Videoaufzeichnung enthält vier Filmausschnitte aus dem folgenden Dokumentarfilm, dessen Regisseur wir für die freundliche Genehmigung danken: Der Hölle entkommen. Kinder von Gurs überleben im Versteck – Ein Film von Dietmar Schulz, 2021.
Pressebericht über die Veranstaltung (PDF 921 KB), in: Badische Neueste Nachrichten vom 25.10.2025
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