Forschungsfeld Gesellschaftsgeschichte Namibias

Das heutige Namibia, das unter dem Namen Südwestafrika zwischen 1884 und 1915 deutsche Kolonie und von 1915 bis 1990 von Südafrika besetzt war, zeichnet sich einerseits durch extreme geographische und klimatische Bedingungen aus, andererseits durch eine Vielzahl an ethnischen Gemeinschaften und Gesellschaftsformen. Verstärkt wurde die Komplexität des nur dünn besiedelten Landes durch die Transformationen, die es im Zuge seiner Besiedlungsgeschichte, der wechselnde Herrschaftsverhältnisse und der wirtschaftlichen Dynamiken zwischen traditionellen Subsistenzsystemen, extensiver Agrarwirtschaft und Industrialisierungsansätzen erfahren hat. Vor diesem Hintergrund beschäftigen wir uns mit verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in Namibia, in denen wir insbesondere langfristige Entwicklungen über Epochengrenzen hinweg ins Auge fassen:

Zunächst ist Namibia heute ein intensiv vom Christentum geprägtes Land. Bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert war die Region Ziel von Missionar*innen, welche die Grundlage für eine dauerhafte Christianisierung des Landes legten. Diese ist aber nicht ohne die Emanzipationsbestrebungen der namibischen Christ*innen und die Unabhängigkeit ihrer Kirchen zu verstehen, genauso wenig ohne die Verflechtung von Kirchen und Politik. Insofern ist die Geschichte des christlichen Glaubens in Namibia sowohl ein zentraler Bestandteil gesellschaftlicher wie politischer Entwicklung als auch ein Paradebeispiel für eine „Außereuropäische Christentumsgeschichte“, welche die Eigenständigkeit des Christentums im globalen Süden jenseits der europäischen Dominanz betont.

Darüber hinaus ist Namibia aufgrund seiner Struktur und Geschichte ein ideales Studienobjekt für die Entwicklung ethnischer Beziehungen und Konflikte. Die Multiethnizität des Landes konnte sich in gewaltsamen Konflikten ebenso entladen wie zu kulturellen Verflechtungen und neuen Gesellschaftsstrukturen führen. Ein gesamtheitlicher Blick auf diese Zusammenhänge ermöglicht nicht nur ein Verständnis kolonialer Unterdrückungsstrukturen, sondern verspricht weiterführende Einsichten in die Dynamik komplexer Gesellschaftsstrukturen.

Als ehemalige Kolonie war und ist Namibia dauerhaft mit Formen des Rassismus konfrontiert und war unter südafrikanischer Besatzung mehrere Jahrzehnte Schauplatz der Apartheid, die seit Ende der 1950er Jahre aus Südafrika planmäßig transferiert wurde. Neben den Strategien und Mechanismen der Durchsetzung von Apartheid gilt unser besonderes Augenmerk den Reaktionen in der betroffenen Bevölkerung, den Mustern von Widerstand und Alltagsgestaltung sowie den individuellen und kollektiven Erfahrungen im System der „Rassentrennung“, welche die namibische Gesellschaft bis heute prägen.

Dieser Erfahrungsgeschichte schließt sich unmittelbar die Beschäftigung mit den Widerstands-, Befreiungs- und Nationalbewegungen an. Von besonderem Interesse sind dabei der Machtransfer und seine soziopolitischen Folgen sowie die damit verbundene Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. In der jüngsten Geschichte stehen auf der einen Seite der Versuch eines „nation building“, um eine genuin namibische Identität zu schaffen, auf der anderen Seite das Streben nach Selbstvergewisserung und Autonomie der verschiedenen ethnischen Gruppen, welches in der politischen Debatte häufig als „Tribalismus“ simplifiziert wird.

In allen diesen Teilbereichen treten immer wieder vergleichbare Zusammenhänge und Muster auf. Unsere Forschungen zur Gesellschaftsgeschichte Namibias sind daher übergreifend mehreren kultur- und sozialwissenschaftlichen Arbeitsfeldern zuzuordnen, vor allem der historischen Konflikt- und Gewaltforschung, Aspekten von Governance in komplexen gesellschaftlichen Kontexten, Fragen der Identitätsbildung sowie der Außereuropäische Christentumsgeschichte.

13.08.2021