Gespräche am Tor - Karlsruher Begegnungen zu Wissenschaft, Politik und Kultur
Apartheid in Namibia 1960–1990: Zeitzeugen sagen aus –
Ein Gespräch aus der Forschungswerkstatt
9. April 2025, 18 Uhr
Werkstattgespräch mit Prof. Dr. Jürgen Nagel und Leo Ryczko, M.Ed.
Flyer zur Veranstaltung (PDF 150 KB)
„Silence is also a way of speaking“ – die Apartheidserfahrung in Namibia (1960-1990) in einem Oral-History-Forschungsprojekt der FernUniversität in Kooperation mit der University of Namibia
„Es handelte sich um eine Rassentrennung bis auf den absoluten Grund der Gesellschaft“ – so kennzeichnete Prof. Dr. Jürgen G. Nagel (Lehrgebiet „Geschichte Europas in der Welt“, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen) das südafrikanische Apartheidsregime, das nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Namibia Einzug hielt. Anlässlich des 35. Jahrestags der Unabhängigkeit Namibias hatten die Karlsruher „Gespräche am Tor“ zu einem Werkstattgespräch über ein Forschungsprojekt geladen, das am Hagener Lehrgebiet „Geschichte Europas in der Welt“ die bisher wenig erforschte namibische Apartheidserfahrung untersucht. Im Rahmen der 50-Jahr-Feier der FernUniversität in Hagen sowie in Kooperation mit dem Förderverein FORUM RECHT e.V., Karlsruhe-Leipzig und dem Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften an der FernUniversität in Hagen bot das Gespräch mit Jürgen G. Nagel und Leo Ryczko, M.Ed. (Lehrgebiet „Geschichte Europas in der Welt“, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen) in drei Themenrunden Einblicke in den historischen Gegenstand, den konzeptionellen Rahmen und erste Ergebnisse des Forschungsprojekts. Weitere „Virtuelle Gäste“ bereicherten per Videoeinspielung das Gespräch.
Die erste Gesprächsrunde informierte über den allgemeinen historischen Rahmen des südwestafrikanischen Raums, der sich als „Zuwanderungsland“ zu einer multiethnischen Gesellschaft mit Laborcharakter entwickelte, wobei die in den letzten drei Jahrzehnten vor der Unabhängigkeit unter südafrikanischer Verwaltung implementierte Apartheid (1960-1990) an manche Segregationsmaßnahmen der deutschen Kolonialzeit (1884-1915) anknüpfen konnte. Im Zusammenhang mit den Forschungslücken zur südafrikanischen Herrschaft über Namibia bestätigte Dr. Kletus Likuwa (University of Namibia) als enger Kooperationspartner des Forschungsprojekts in der Videoeinspielung die zentrale Rolle des Oral-History-Ansatzes, der der namibischen Gesellschaft dazu verhelfe, sich ihre lange von „Außenseitern“ definierte Geschichte durch die Berücksichtigung eigener „Stimmen“ und „Erzählungen“ anzueignen.
Damit war in Überleitung zur zweiten Gesprächsrunde der besondere methodische Ansatz des Forschungsprojekts und sein daraus resultierender unverzichtbarer kooperativer Charakter angesprochen – nämlich in enger Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen von der University of Namibia und der Museum Association of Namibia die bisher wenig erforschte Erfahrungsgeschichte der Apartheid durch Zeitzeugenaussagen aufzuarbeiten. Bei diesem Ansatz werden bekanntlich die lebensgeschichtlichen Interviews weniger unter dem Erkenntnisziel einer historischen „Wahrheit“ geführt, vielmehr geht es um die individuelle Verarbeitung von historischen Ereignissen und die sinnhafte Integration von Erinnerung in die persönliche Lebensgeschichte. In der Videoeinspielung veranschaulichte Kletus Likuwa die notwendige Adaptation des Oral-History-Ansatzes an die lokale Beziehungs- und Kommunikationspraxis mit dem Sprachbild des „kutokwera“, wonach die lebensgeschichtlichen Interviews im informellen Rahmen, also etwa beim abendlichen Gespräch „am Feuer“, erfolgreich zu führen sind. Über die Vorgehensweise bei der Auswahl der Zeitzeugen klärte Tabea U. Buddeberg, M.A. (Lehrgebiet „Geschichte Europas in der Welt“, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen) auf, die ebenfalls maßgeblich an der Projektführung beteiligt ist.
Das Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Erfahrungsgeschichte und gesellschaftlicher Erinnerungskultur stand im Zentrum der dritten Gesprächsrunde, in der der namibische Zeitzeuge Dawid an einige Episoden aus seiner Kindheit im Township Katutura (Windhoek) erinnerte. Anhand der drei Videoeinspielungen konnte konkretisiert werden, wie mit dem unterschiedlichen Reflexionsgrad solcher lebensgeschichtlichen Aussagen analytisch umzugehen ist und diese in den historischen Kontext einzuordnen sind. Obwohl sich Dawids Apartheidserfahrung in seiner Aussage über die Bedeutung von Bildung deutlich reflektiert findet, vermeidet er im gesamten Interview den Begriff der Apartheid.
Im Ausblick unterstrich das Werkstattgespräch u.a. die anhaltende Bedeutung der Apartheidserfahrung in der heutigen namibischen Gesellschaft, wo „das Erbe der Apartheid an allen Ecken und Enden spürbar ist“ – bis hin zu einer heute wahrgenommenen „neuen, sozialen Apartheid“ (Jürgen G. Nagel). Die abschließend in Aussicht gestellten künftigen Schritte sehen vielfältige Initiativen zur öffentlichen Vermittlung der vielversprechenden Projektergebnisse bis hin zur Intensivierung der FernUni-Kooperation mit dem südlichen Afrika vor.
Jürgen G. Nagel, Prof. Dr., geb. 1966, ist Leiter des Lehrgebiets „Geschichte Europas in der Welt“ an der FernUniversität in Hagen. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören die Gesellschaftsgeschichte des südlichen Afrikas, die Beziehungen zwischen muslimischen Gesellschaften und Imperialmächten sowie die Verflechtungsgeschichte des Indischen Ozeans. Seit 2021 leitet er zudem den Forschungsverbund CoVio zur interdisziplinären Gewaltforschung (Collective Violence, www.fernuni-hagen.de/forschung/schwerpunkte/gruppen/kollektive-gewalt-covio).
Leo Ryczko, M.Ed., ist Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrgebiet „Geschichte Europas in der Welt“ an der FernUniversität in Hagen und Lehrbeauftragter an der Berliner Hochschule für Technik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der koloniale Diskurs in queeren Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts (Promotionsvorhaben), die deutsche Kolonialgeschichte, die Geschlechtergeschichte sowie die intersektionale und postkoloniale Theorie.
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