Agile Hochschullehre kritisch hinterfragt, Teil 3

In den beiden vorherigen Beiträgen ging es um eine Einführung ins Thema Agilität und die Übertragung auf die Lehre. In diesem Teil beleuchten wir, wie das Thema im Zeichen von engen Vorgaben im Studium umgesetzt werden könnte.

Rebellion gegen Bologna?

Alexander Sperl (AS): Ich würde gerne noch mal einen Aspekt aufgreifen, den du eben angesprochen hattest, Tanja. Nämlich, dass die Lehre an Hochschulen früher viel freier gestaltet war. Durch den Bologna Prozess haben wir uns ja auch eine ganze Menge Nebenwirkungen eingekauft, wie z. B. Prüfungsfixiertheit und damit verbundenes Bulemie-Lernen. Die Bologna-Umstellung hat das Studium viel strukturierter gemacht und mehr Prüfungen eingeführt, manche sagen, es ist alles viel verschulter geworden. Könnte man jetzt sagen, dass der Versuch, die Lernkultur mit agilen Arbeitsweisen zu verändern, so etwas wie eine Rebellion gegen den Bologna-Prozess ist?

Tanja Adamus (TA): Ich glaube, dass Bologna tatsächlich vieles verschult hat. In meiner Lehre an der Uni Duisburg-Essen war es dann so, dass nur noch Studierende dasaßen, die den Bachelor Bildungswissenschaften gemacht haben. Davor war es eine andere Zusammensetzung mit Lehrämtler*innen, die auch noch mal eine andere Perspektive eingebracht haben und ich denke, dass das in vielen Studiengängen mittlerweile so ist, dass dieser zumindest ansatzweise mögliche interdisziplinäre Ansatz nicht mehr da ist. Ob Agilität das auffangen kann, da bin ich wirklich mal gespannt, ob das funktionieren kann. Und vor allem, wie das mit den strikten Vorgaben von Bologna übereinkommen kann.

Nicole Engelhardt (NE): In dem Fall würde es ja schon helfen, wenn die Homogenität der Studierendengruppen aufgebrochen würde, sobald Inhalte da sind, die in unterschiedlichen Studiengängen wichtig sind. Dann hättest du da wieder diese unterschiedlichen Perspektiven. Ich wäre aber auch immer dafür, dass Studierende da ihre eigenen Impulse setzen können, sofern das im Gesamtrahmen stimmig ist und auf das Endergebnis hinführt. Da sollte eine gewissen Freiheit da sein. Ich bin mir nicht sicher, ob das unter Bologna-Bedingungen möglich ist oder ob die Vorgaben zu strikt sind.

AS: Was ist denn deine Einschätzung: Würden solche agilen Methoden diese Freiheit befördern, also wird dann wieder mehr Freiheit möglich sein?

NE: Das auf die Bildungswissenschaft zu übertragen fällt mir spontan schwer. Wenn du bei SCRUM oder EduScrum oder ähnlichem ansetzt, dann kannst du das auch mit problembasiertem Lernen vergleichen. Du hast ein Problem, du brauchst irgendwie eine Lösung und der Weg dahin ist aber nicht unbedingt vorgegeben. Das heißt, du erarbeitest dir das im Team und das ist auch schon das, was wesentlich ist. Damit kommt für mich schon eine gewisse Freiheit rein.

TA: Ich glaube schon, dass das auf die Bildungswissenschaft übertragen werden kann. Ich gebe da z. B. einen Kanon aus zu den Klassikern der Pädagogik, aus dem die Lernenden auswählen können. Vielleicht gebe ich ein oder zwei vor, die alle gelesen haben müssen wie den Humboldt’schen Bildungsbegriff, aber ansonsten geben ich nur vor, dass sie fünf bis zum Ende des Semesters bearbeitet haben müssen. Vielleicht noch mit zusätzlichem Material. Dann halte ich irgendwie die Ergebnisse fest.

Zum einen schaffe ich etwas, das ich normalerweise nicht geschafft hätte, nämlich dass sie sich mit diesen Theorien vertiefend beschäftigt haben und nicht nur überblicksmäßig. Ich schaffe also mehr Breite, mehr Vielfalt. Es ist nicht mehr die Vorgabe des Lehrenden. Ich könnte mir da schon Settings vorstellen, aber ich weiß nicht, ob es nicht einfach auf ein „Pick dir einfach mal Themen raus“ hinausläuft. Das ist das, was ich gerade meinte, was Uni früher war.

NE: Das sind wir wieder bei dem Thema „Was ist Methode? Was ist Mindset?“ Ich glaube, methodisch kannst du sagen, das sind die Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen. Also z. B. dass sie Humboldt drauf haben müssen. Wenn ich das mit dem klassischen Projektmanagement vergleiche und ein Haus gebaut werden soll und eine Anforderung ist, dass das Haus eine Garage haben soll, dann führt kein Weg daran vorbei, dass die Garage mitgeplant wird. Das Projekt ist eben nicht gut umgesetzt, wenn die Garage hinterher fehlt. Solche Bedingungen können schon gesetzt werden und ich glaube, dass das methodisch einfach sehr gut durchdacht werden muss.

Natürlich ist es so, dass bei Inhalten, die aufeinander aufbauen, z. B. die Grundlagen da sein müssen. Was Agilität an dieser Stelle dann wieder ausmacht, ist die Diskussion auf Augenhöhe. Und vielleicht ist das wirklich alter Wein in neuen Schläuchen, wenn man sich an die Studienbedingungen vor Bologna erinnert. Allerdings kommt es mir so vor, als wäre es früher komplett unstrukturiert und eben auch unmethodisch gewesen. Agilität bringt da einfach mehr Methodik mit und vielleicht auch mehr Lernbegleitung und wenn das das Neue daran ist, dann finde ich ist das auch schon mal viel wert.

TA: Also das ist das was mir an dem Artikel am meisten gefehlt hat. Mir kam es so vor, als würde dort dafür plädiert, dass alle mal so vor sich hin machen und man schaut dann, was da so passiert. Und das gibt auch gar keine Sicherheit, weder für die Studierenden noch für diejenigen, die dann nachher entscheiden müssen, ob ein*e Kandidat*in für den Job der*die passende ist. Das ist dann tatsächlich so wie früher, dass man nur vom Abschluss Diplom Pädagogik nicht darauf schließen konnte, welche Spezialgebiete da abgedeckt wurden. Da wäre Bologna schon ein Vorteil, weil viel genauer nachvollziehbar ist, welche Expertise ein*e Kandidat*in mitbringt.

Genau diese Stellschrauben zwischen den beiden Extremen umschifft der Artikel irgendwie. Zumal wir die Studierenden ja erstmal dazu bringen müssen, mit dieser Selbstbestimmtheit umgehen zu können. Die bringen sie ja normalerweise nicht mit, weil sie es nie richtig gelernt haben. Und da sind wir dann auch wieder bei der Rolle der Lehrenden. Wann muss interveniert werden? Wieviel Input ist notwendig? Sind die Lehrenden Lernbegleiter und was genau bedeutet das? Und wir sind dabei, dass es irgendeine Form der Erfolgskontrolle in unseren formalen Settings geben muss. Wie sieht es mit der Vergleichbarkeit aus? Ich glaube, wir sind da gar nicht so weit auseinander in vielen Punkten. Aber genau dabei haben mir doch konkrete Antworten gefehlt.

Und wo ich auch noch ein Problem sehe: Ich glaube, dieser ganze Ansatz mit Agilität und SCRUM usw. bricht in sich zusammen, sobald du eine Person hast, die nicht bereit ist, sich darauf einzulassen. Besonders dann, wenn es sich um die Führungsperson oder die Lehrkraft handelt. Weil dann läuft es doch wieder auf Kontrolle heraus und das konterkariert das Ganze dann.

NE: Ja, genau das ist die Voraussetzung und deshalb halte ich auch immer so stark an diesen Methoden fest. Es braucht da auch Leute, die darin ausgebildet sind und die einem Team da immer wieder den Spiegel vorhalten können, mit der jeweils gegebenen Vorsicht, und sagen können, das läuft gut und das nicht.

TA: Das ist auch ganz viel Teamentwicklung. Du brauchst die Bereitschaft, sich auf die Rückspiegelung einzulassen. Vor allem von den Führungskräften und den Lehrkräften, aber es gibt sehr viele, die nicht bereit sind, sondern die kontrollieren wollen.

NE: Anfang des Jahres war ich im Rahmen einer Community Working Group zum Thema Innovationskultur in einer Firma, die das Thema Agilität zum Prinzip im Unternehmen gemacht hat. Die sagen ganz knallhart, wer nicht bereit ist, sich darauf einzulassen, der ist bei uns fehl am Platz. Das ist natürlich an anderen Stellen überhaupt nicht möglich und dann ist die Frage tatsächlich, wie gehst du damit um, wenn es Personen gibt, die sich nicht darauf einlassen wollen.

TA: Um vielleicht wieder den Bogen zur Lehre zu schlagen: Gibt es denn da Ansätze oder Methoden, diejenigen einzufangen, denen diese Offenheit zu unbestimmt ist? Denen die Struktur fehlt und die die Sicherheit brauchen?

NE: Ganz viel lebt davon, dass du Retrospektiven in dem Team machst. Da gibt es fünf unterschiedliche Stufen, die du nacheinander abarbeitest. Für die Stufen gibt es wiederum Methoden, die versuchen sollen, alle Teilnehmenden abzuholen, sodass du insgesamt nach und nach immer mehr Vertrauen schaffst, weil sich die Teilnehmenden im Laufe der Zeit durch diese Methoden auf den unterschiedlichen Stufen auch immer besser kennenlernen und dann eher für eine Öffnung bereit sind. Wenn du bestimmte Dinge am Anfang anonym machst, dann ist die Bereitschaft auch am Anfang schon groß, ehrliche Antworten zu geben. Wenn du es dann noch z. B. über eine virtuelle Pinnwand machst, wo man auch die Schrift nicht identifizieren kann, ist die Bereitschaft noch höher. Und im Laufe der Zeit wächst dann die Vertrautheit und die Personen sind dann auch offener, im Team die Retrospektive anzunehmen.

TA: Das mag ja in kleinen Arbeitsteam gut funktionieren, aber ich frage mich gerade, wie das bei 40 fremden Menschen im Seminar ist, wenn die vor allem auch nur eine begrenzte Zeit zusammen sind, bevor sie wieder auseinander gehen.

NE: Naja, erstmal hast du ja schon in der Regel ein halbes Jahr Zeit und dann kannst du die große Gruppe ja in kleine einteilen, die das dann untereinander machen. Da sehe ich kein Problem. Und was du im ersten Semester gelernt hast, kannst du dann in die Folgesemester mit übernehmen. Wenn das bei allen so ist, ist auch die Neuzusammensetzung von Gruppen kein Problem. Da muss man dann nicht mehr bei null anfangen, sondern kann das weiterentwickeln, was vorher angefangen wurde.

TA: Ich überlege gerade, ob wir jetzt bei einer Aufwertung der Lehre sind, die darin besteht, dass wir mit Lerngruppen von 5-6 Studierenden arbeiten. Das sehe ich eher nicht, wenn ich an die Rahmenbedingungen denke. Worüber wir uns im Klaren sein müssen, ist aber, dass es nochmal eine Aufwertung der Lehre ist in dem Sinne, dass ich viel mehr zu einer Lernbegleiterin werde, weil ich auf einmal auf ganz andere Prozesse achte und eingehe. Wenn ich vorher mein Seminar oder meine Vorlesung halten konnte, indem ich meine Standards oder meine Forschungsergebnisse präsentiert habe, soll ich mich jetzt mit meinen Studierenden hinsetzen und mit ihnen ihren Lernprozess reflektieren. Das hat eine ganz andere Voraussetzung und ganz andere Vorbereitung nötig und das sind ganz andere Anforderungen an Lehre.

Weiterführende Links und Literatur

Ilona Arcaro und Anna Gähl (2020): Mindset für Agile Lehre. In: DUZ 07/2020.

Christof Arn (2020): Agile Hochschuldidaktik. 3. Auflage, Beltz Verlag, Weinheim.

Andreas Diehl: Agilität im Unternehmen – Die hohe Kunst mit Dynamik und Komplexität umzugehen


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