Aktuelles
Lebensgeschichtliche Recherchen im Spannungsfeld von Privat und Öffentlich
[05.11.2025]
Foto: Public History
„Die Ausstellung #StolenMemory ist beeindruckend. Durch den Fokus auf persönliche Gegenstände und individuelle Biografien bietet sie einen sehr direkten und erfahrbaren Zugang zur Geschichte. In dem Projekt der Arolsen Stiftung und dem Seminar des Lehrgebiets Public History der FernUniversität werden Menschen aktiv in die Spurensuche mit einbezogen. Aktuelle psychologische Forschung zeigt, dass eine solche partizipative Erinnerungsarbeit das Engagement für Gedenkprojekte sowie die Bereitschaft sich gesellschaftlich zu engagieren fördert.“
Prof. Dr. Anette Rohmann, LG Community Psychology, FernUniversität in Hagen
Im Rahmen eines Projektseminars unter dem Titel Privat und Öffentlich haben Studierende der FernUniversität in Hagen im Mai 2025 ein Präsenzseminar in Bad Arolsen belegt. Unter der Leitung von Prof. Dr. Felix Ackermann und Anzhela Beliak arbeiteten Studierende in den Arolsen Archives in Bad Arolsen – dem weltweit größten Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus.
Im Mittelpunkt des Seminars stand das internationale Projekt #StolenMemory, das persönliche Gegenstände ehemaliger KZ-Häftlinge – sogenannte Effekten – an deren Familien zurückgibt. Die Studierenden verfolgten in ihren Recherchen individuelle Lebensgeschichten und stießen dabei auf eine weitgehend vergessene Opfergruppe: die als „Berufsverbrecher“ bezeichneten Häftlinge, die unter dem NS-Regime zu Unrecht kriminalisiert und in Konzentrationslager deportiert wurden.
Anzhela Beliak erläuterte am Beispiel von Zofia Mościcka, wie eine solche Rückgabe abläuft. Die Polin war in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Neuengamme inhaftiert. Ihre persönlichen Gegenstände, die ihr bei der Verhaftung abgenommen worden waren, wurden im März 2025 in Warschau feierlich an ihre Enkeltochter übergeben. Der Moment der Rückgabe zeigte eindrucksvoll, wie Erinnerung konkret und menschlich werden kann – wenn ein Ring oder eine Uhr nach achtzig Jahren in die Familie zurückkehrt.
Prof. Dr. Felix Ackermann führte zu Beginn in das Konzept der postnationalsozialistischen Gesellschaft ein. Bad Arolsen stehe exemplarisch für dieses Spannungsfeld: einerseits geprägt durch die SS-Vergangenheit der Stadt, andererseits durch den Aufbau des Internationalen Suchdienstes für NS-Verfolgte nach 1945.
Sabine Sch. untersuchte die lokale NS-Geschichte Bad Arolsens am Beispiel von Josias zu Waldeck und Pyrmont, einem hochrangigenNSDAP-Mitglied und SS-General, und der kaum bekannten Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald in der Stadt.
Marie S. richtete ihren Blick auf die Zeit nach dem Krieg und auf die Rolle der sogenannten Displaced Persons (DPs), die wesentlich am Aufbau der Arolsen Archives beteiligt waren. Sie betonte, wie wichtig Archivarbeit für die Rekonstruktion individueller Lebensgeschichten ist – und welche ethischen Fragen sich dabei stellen, wenn Studierende mit sensiblen Schicksalen arbeiten.
Die Recherchen ermöglichen eine kritische Auseinandersetzung mit NS-Gewaltstrukturen und bieten Anknüpfungspunkte für weiterführende wissenschaftliche Arbeiten.
Mehrere Studierende stellten anschließend ihre eigenen Recherchen vor:
Hendrick G. verfolgte die Lebensgeschichte von Siegfried Upmeier, der 1932 wegen Totschlags verurteilt und später ins KZ Neuengamme deportiert wurde. Er überlebte den Untergang der „Cap Arcona“ im Mai 1945. Gramkow entdeckte dabei auch die Spur seines Bruders Wilhelm, der ebenfalls im KZ verschwand.
Rita St. erforschte anhand von Gestapo-Akten und Sterbeurkunden die Biografie von Friedrich Wilhelm Falke.
Ann-Kathrin K. analysierte die rechtliche und gesellschaftliche Konstruktion der Kategorie „Berufsverbrecher“. Sie zeigte, wie Menschen durch das sogenannte Gewohnheitsverbrechergesetz kriminalisiert und in Konzentrationslager verschleppt wurden – und dass der Deutsche Bundestag diese Opfergruppe erst im Jahr 2020 offiziell anerkannte.
Die Präsentationen machten eindrucksvoll deutlich, dass lebensgeschichtliche Recherchen im Archiv weit über die Rekonstruktion einzelner Schicksale hinausgehen. Sie geben vergessenen Menschen einen Platz in der Erinnerung zurück und machen gesellschaftlich marginalisierte Opfergruppen sichtbar.
Das Projekt #StolenMemory wurde damit zu einem lebendigen Beispiel dafür, wie Forschung, Lehre und öffentliche Erinnerungskultur miteinander verbunden werden können. Die Arbeit der Studierenden zeigt, dass Geschichte nicht nur in Archiven bewahrt, sondern auch aktiv weitergegeben wird – durch das Erzählen, Erinnern und Teilen persönlicher Geschichten.
Prof. Dr. Felix Ackermann
Anzhela Beliak