Leibkörperlichkeit und Praxis

Was ist ein Körper doch für ein unleidliches Ding: Es schmerzt, es zwickt, es juckt an allen Enden. Wäre es da nicht besser, wenn wir keinen Körper hätten? Wenn wir als reines Bewusstsein existieren würden, ohne an unsere schmerzliche, unrühmliche leibliche Existenz gebunden zu sein? Soll das nur ein Traum sein? Die Antwort ist prosaischer als die Frage: Ja, in der Tat: es ist nur ein Traum – ein Traum, der durch eine überkommene philosophische Vorstellung möglich gemacht wird. Seit Descartes ist die Zweiteilung des Menschen in einen ausgedehnten und einen denkenden Teil, in Körper (vergänglich, endlich, allzumenschlich) und Bewusstsein (unvergänglich, unendlich, ziemlich nah am Göttlichen) ein fester Bestandteil des philosophischen Repertoires. Kein Wunder, dass man davon träumt, endlich diesen unleidlichen Körper loszuwerden.

Am Lehrgebiet Philosophie III erforschen wir, warum sich der Körper nicht einfach aus unserer Erfahrung streichen lässt und warum die cartesianische Zweiteilung falsch – oder zumindest nicht sonderlich hilfreich – ist. Dabei nutzen wir phänomenologische Begriffe und Beschreibungen, vor allem diejenigen Maurice Merleau-Pontys, greifen aber auch die Überlegungen von Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Iris Marion Young und Judith Butler auf. Eine zentrale Erkenntnis dieser Forschungen lautet: Unsere Existenz ist von einer „korporalen Differenz“ geprägt. Das heißt, wir sind immer zweierlei: Leib und Körper – um beides zu bezeichnen, können wir vom „Leibkörper“ sprechen. Wenn wir vom „Körper“ sprechen betrachten wir unseren Leibkörper wie andere Objekte in der Welt (Tische, Stühle, Fernsehapparate) aus der Perspektive der dritten Person. Andererseits ist mein Leibkörper aber auch mein Zugang zur Welt – in dieser erstpersonalen Perspektive bezeichne ich meinen Leibkörper dann als „Leib“.

Diese Konzepte werden dann in den Forschungen des Lehrgebiets auf verschiedene Themenfelder angewendet: Bezogen auf das Politische (siehe dazu auch Phänomenologie des Politischen) fragen wir uns, welche Rolle unser Leibkörper in politischen Prozessen spielt – etwa bei Protesten, zivilem Ungehorsam. Aber auch allgemeiner: Was bedeuten Emotionen (die eben immer leibkörperliche Emotionen sind) für das Politische? Im Zusammenspiel mit den Kognitionswissenschaften versuchen wir, ausgehend von leibphänomenologischen Forschungen neue Einsichten in Bezug auf das Verhältnis von Körper und Geist (das wir vielleicht gar nicht in diesen Begriffen beschreiben sollten) zu gewinnen und ins Verhältnis zu bisherigen Forschungen, z.B. im Enaktivismus, zu setzen. Dabei ist die Verknüpfung von Technik mit unserem Leibkörper ein wichtiges Feld unserer Forschungen. Schon Merleau-Ponty benutzt das Beispiel des Blindenstocks, der Teil des Leibes wird, mit der Digitalisierung unserer Lebenswelt hat das Zusammenspiel von Körper und Technik ein ungekanntes Maß erreicht. Trotz dieser Veränderungen bleibt unsere Welt eine leibkörperliche – denn: ohne Leibkörper keine Erfahrung, ohne Erfahrung keine Welt.


Im Forschungsfeld Praxis, Praktiken, Leibkörperlichkeit sind bisher u.a. folgende Arbeiten erschienen:

  • Selin Gerlek: Korporalität und Praxis. Revision der Leib-Körper-Differenz in Maurice Merleau-Pontys philosophischem Werk. Paderborn: Fink 2020.
  • Ulrich Dopatka: Phänomenologie der absoluten Subjektivität. Eine Untersuchung zur präreflexiven Bewusstseinsstruktur im Ausgang von Edmund Husserl, Jean-Paul Sartre, Michel Henry und Jean-Luc Marion. Paderborn: Fink Verlag 2019
  • Thomas Bedorf und Selin Gerlek (Hg.): Philosophien der Praxis. Ein Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck 2019 (= UTB).
  • Thomas Bedorf und Selin Gerlek (Hg.): Phänomenologie und Praxistheorie (Gastherausgeber Schwerpunkt), in: Phänomenologische Forschungen (2017), Nr. 2, 3-184.
  • Ulrich Dopatka: Diesseits von Leib und Körper. Die Phänomenologie Michel Henrys und die Praxistheorie. In: Phänomenologische Forschungen 2017, Bd. 2, 147-159.
  • Thomas Bedorf und Tobias Nikolaus Klass: Leib – Körper – Politik. Untersuchungen zur Leiblichkeit des Politischen, Weilerswist: Velbrück 2015 (= Kulturen der Leiblichkeit, Bd. 2), 2., verb. u. erw. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2018 (= UTB).
  • Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny und Tobias Nikolaus Klass (Hg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzeptes, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 2. verb. u. erw. Aufl. 2018.
09.04.2024