Eine Psychotechnik-Konferenz in Warschau 1930

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 53

Im Psychologiegeschichtlichen Forschungsarchiv befindet sich ein polnisches „Erinnerungsbuch der Ersten Nationalen Psychotechnischen Konferenz“, die vom 4.-6. Januar 1930 in Warschau stattfand. Das Buch enthält auf 151 Seiten das Konferenzprogramm, die vollständige Teilnehmerliste, Angaben zum Inhalt der Vorträge, Diskussionsprotokolle dazu und Berichte über die derzeitig in Polen aktiven psychotechnischen Einrichtungen. Nach der Zerschlagung im 19. Jahrhundert war Polen 1918 als zweite Republik wiederbegründet worden. Das „Erinnerungsbuch“ ist daher ein Dokument des Entwicklungsstandes der Psychotechnik in Polen in der kurzen Zeit zwischen den Weltkriegen.

Foto: Fernuniversität in Hagen

An der Konferenz nahmen 82 Personen teil. Die überwiegende Mehrheit (59 Personen) kam aus Warschau. Vier Personen kamen aus Krakau, zwei aus Lemberg, drei aus Schlesien, zwei aus Posen (Poznań), drei aus Lublin, sechs Personen aus Lodsch (Łódź), eine Person aus Vilnius und eine aus Siedlce.

Foto: Fernuniversität in Hagen

Neun Vorträge von sieben Männern und zwei Frauen – alle tätig in Warschau oder Krakau – wurden abgedruckt. Die Themen waren allgemein gehalten. Es ging um eine Bestandsaufnahme, um die Rolle des Psychologen in der Berufsberatung, das berufsberatende Gespräch, Fragen der Ausbildung von Psychotechnikern oder um „Frauenspezifische Berufe und Psychotechnik“.

Die psychotechnische Konferenz gab auch Anlass zu einer Bestandsaufnahme psychotechnischer Einrichtungen in Polen. Die Tabelle im Anhang zum Gedenkbuch (s. Abbildung) nennt 19 Einrichtungen, begründet 1919-1930. Zum Zeitpunkt der Konferenz bestanden die Einrichtungen im Durchschnitt seit vier Jahren. Die Ausrichtung psychodiagnostische Aufgaben, teils auch Diagnostik und Berufsberatung. Leiter der Einrichtungen waren etwa zur Hälfte (8) Ingenieure und zur anderen Hälfte Personen mit Promotion in der philosophischen Fakultät (7); einige Personen wurden als Psychologen (2) und als Dozenten/Lehrer (2) aufgeführt. Einige Leiter hatten zwei akademische Abschlüsse.

Das „Erinnerungsbuch“ lässt darauf schließen, dass innerhalb des Jahrzehnts nach der Wiederbegründung Polens die Psychotechnik ein Niveau erreichte, das dem anderer europäischer Länder entsprach. Man kann dies an den Themen und der Qualität der Beiträge auf der Konferenz ablesen: Diskutiert wurden auch soziale Dimensionen der Psychotechnik, die Gütekriterien der Verfahren usw. Zugleich gibt es Hinweise auf die damalige internationale Zusammenarbeit (vgl. auch „Schaufenster“ 51).

Vielleicht hätte man auch die Teilnahme der bekannten Psychotechnikerin Franziska Baumgarten (1883-1970) erwartet, die in Łódź (Litzmannstadt) geboren war und bekannt war. Sie hatte sich 1929 in Bern zum Thema Psychotechnik habilitiert und war zum Zeitpunkt der Konferenz bereits in der Schweiz tätig.

1925 war die Polnische Psychotechnische Gesellschaft gegründet worden. Diese hatte zum Zeitpunkt der Konferenz 68 Mitglieder. Verbesserung der Qualifikationen, eigene Veröffentlichungen und z.B. Übersetzungen der Fachliteratur, z.B. von Publikationen von Baumgarten aus dem Deutschen, wurden als Aufgaben genannt.

Dem internationalen Austausch zur Psychotechnik diente in dieser Zeit die Internationale Gesellschaft für Psychotechnik. 1930, im Jahr der Konferenz in Warschau, hatte diese Gesellschaft ihre Konferenz in Barcelona. Dort wurde Isaac Spielrein zum Präsidenten gewählt. Spielrein richtete 1931 in Moskau die große, VII. Internationale Konferenz mit 300 Teilnehmern aus. Er hatte den Plan, in Moskau eine Universität für Psychotechnik zu gründen. Nach eindrucksvollem Ausbau der Psychotechnik gab es aber bald in der Sowjetunion eine Psychotechnik-feindliche Stimmung. Spielrein wurde zur Zwangsarbeit deportiert. 1937 wurde er wegen „Spionage und Teilnahme an einer konterrevolutionären Organisation“ verurteilt und hingerichtet.

Im Deutschen Reich war die Psychotechnik 1930 weit verbreitet. Ähnlich wie in Polen war sie zum großen Teil eine Sache der Ingenieure, denn eine berufsbildende Ausbildung von Psychologen gab es in Deutschland erst ab 1941. Um 1930 wurde die Psychotechnik in Deutschland aber schon öffentlich kritisiert (s. „Schaufenster“ 48). Dies lag u.a. an geisteswissenschaftlichen Strömungen zwischen den Weltkriegen, an fehlender wissenschaftlicher Forschung und am ungeschickten Taktieren einiger psychotechnischer Praktiker. Heute ist der Begriff „Psychotechnik“ aus dem Sprachgebrauch verschwunden, deren Aufgabe jedoch nicht. Wer ein wenig sucht, wird finden, dass einige psychotechnische Methoden über viele Jahrzehnte erhalten geblieben sind (vgl. z.B. „Schaufenster“ 31).

H.E.L.

P.S.

Besten Dank an Prof. Wlodek Zeidler für seine Übersetzungshilfe und wertvolle Hinweise zur Psychotechnik in Polen.

Patrick Rostane | 08.04.2024