Ein österreichisches Diplom in Psychotechnik?

Schaufenster zum Forschungsarchiv Nr. 54

Der Begriff der Psychotechnik wurde 1903 von William Stern geprägt. In sehr allgemeiner Bedeutung hat ihn Hugo Münsterberg übernommen und mehr oder weniger mit „angewandter Psychologie“ gleichgesetzt. Bald war jedoch die Einengung des Begriffs auf eine überwiegend industrielle Psychotechnik in der Bedeutung von Ausleseverfahren unter Nutzung von Tests und Apparaten verbreitet. Heute klingt es seltsam, dass solche Untersuchungen im deutschen Sprachbereich oft von Ingenieuren durchgeführt wurden, die ihr Wissen zur Psychodiagnostik nicht selten in unzureichenden Schnellkursen bei Psychologen erworben hatten. So machten sich inzwischen Ingenieure wie auch praktizierende Psychologen, besonders aber Lehrende für Psychologie Gedanken um die Ausbildung von Psychologen und Psychotechnikern. Die Gefahr, dass das Ansehen der Psychologie insgesamt leiden würde, war groß (vgl. „Schaufenster“ Nr. 48).

Eine „Arbeitsgemeinschaft für Psychotechnik in Österreich“ verfolgte das naheliegende Ziel, eine geordnete Ausbildung in Psychotechnik zu organisieren. Das Hagener Forschungsarchiv bewahrt im Nachlass Karl Hackl dazu ein interessantes Dokument (s. Abb.), das allerdings Fragen aufgibt. Es ist nämlich nicht datiert.

Im Januar 1928 wurde die „Arbeitsgemeinschaft für Psychotechnik in Österreich“ gegründet. Ziel und Zweck des Vereines waren die Information der Mitglieder über den aktuellen Stand der Psychotechnik, die Förderung der Psychotechnik nicht nur in Fachkreisen sowie die Zusammenarbeit mit allen benachbarten Wissensgebieten und der Einsatz für eine gewissenhafte und wissenschaftliche Anwendung dieses psychologischen Verfahrens (Berufsberatungsamt der Stadt Wien, 1929, zitiert nach Gugitscher (2013)).

Das hier gezeigte Dokument ist ein „Entwurf einer Vorschrift, betreffend Vorbildung, Ausbildung und Prüfungsordnung für Psychotechniker“, entwickelt vom „Ortsverband Graz der Arbeitsgemeinschaft Psychotechnik in Österreich“ (s. Abb.). Was sollte solch ein Studiengang darstellen und bewirken?

Genannt werden Mindestvoraussetzungen der Universitäten. Das Studium solle vier Semester dauern. Als Gebiete neben der Psychologie werden Jugendkunde, Betriebswirtschaftslehre, mechanische Technologie, Arbeitsphysiologie oder Arbeitswissenschaft und Psychiatrie oder Psychopathologie genannt. Nicht explizit genannt werden Gebiete wie Persönlichkeitspsychologie, Forschungsmethoden und Testtheorie. Die Prüfung solle aus einer Klausurarbeit und einer mündlichen Prüfung bestehen. Der Inhaber des Diploms habe dann das Recht, sich als „staatlich geprüfter Psychotechniker“ zu bezeichnen.

Die Betonung der Psychologie und einiger Nebenfächer in dem Entwurf lässt vermuten, dass der Studiengang eher von Psychologen und weniger von Ingenieuren erdacht wurde. Von wann könnte dieser Entwurf stammen? Diese Frage ist bedeutsam, weil es ein Diplom in Psychologie im Deutschen Reich erst 1941 gab. Dieses erlangte erst nach Kriegsende wirklich Bedeutung (Lück, 2020). Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 an das Deutsche Reich galt dieses Diplom kurze Zeit auch für die „Ostmark“. Der Entwurf eines Diploms für Psychotechnik kann aber nur aus der Zeit der Arbeitsgemeinschaft für Psychotechnik, also aus der Zeit von 1928 bis zum „Anschluss“ im Frühjahr 1938 stammen. Allein mit der Bezeichnung „Diplom“ wurde in dem Entwurf ein akademischer Grad in die Diskussion gebracht, den es noch nicht gab, der modern war und interdisziplinäre Züge trug.

Nicht abwegig ist der Gedanke, dass der Entwurf vom Anfang der 1930er Jahre stammt. Vermuten kann man auch, dass Gustav Ichheiser (1897-1969) an dem Entwurf der Prüfungsordnung für Psychotechnik erheblichen Anteil hatte. Er hatte bei Karl Bühler promoviert und im Herbst 1927 die Abteilung für Psychotechnik am Berufsbildungsamt Wien übernommen (Gugitscher, 2013, S. 47). Ichheiser war mit fachpolitischen Entwicklungen in anderen Ländern vertraut. Er führte neben den psychotechnischen Untersuchungen auch Berufsberatungen von Jugendlichen durch.

Ein solcher Diplomstudiengang in Psychotechnik ist aber offenbar nicht verwirklicht worden, weder in Österreich noch im Deutschen Reich. Vielleicht hätte ein Studiengang dieser Art Interesse gefunden und auch dem Ansehensverlust der Psychotechnik entgegengewirkt. Die Frage, welche Wirkungen die Einrichtung eines solchen Studienganges entfaltet hätte, ist aber spekulativ und daher nicht zu beantworten.

Foto: Fernuniversität
Foto: Fernuniversität

Berufsberatungsamt der Stadt Wien und der Arbeiterkammer in Wien (1929). 1928. Wien: Selbstverlag der Kammer für Arbeiter und Angestellte.

Gugitscher, K. (2013). Das Berufsberatungsamt der Stadt Wien und der Arbeiterkammer in Wien. Eine sozialhistorische Studie zur Bildungs- und Berufsberatung in Wien 1918-1933/34. Masterarbeit an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt.

Lück, H. E. (2020). Die Diplomprüfungsordnung für Studierende der Psychologie – eine nationalsozialistische Prüfungsordnung? In M. Wieser (Hrsg.), Psychologie im Nationalsozialismus. (S. 47–72.). Berlin: Peter Lang.

H.E.L.

Patrick Rostane | 08.04.2024